Querschläger
…
Vielleicht ist ihm noch irgendwas eingefallen!, spekulierte sie hoffnungsfroh. Etwas, das er einfach vergessen hatte. Immerhin war er ziemlich konfus gewesen, gestern. Zerstreut und … Ja, dachte sie, irgendwie desorientiert. Im schlimmsten Fall wollte er sich einfach ein bisschen ausheulen, und wenn das zutraf, konnte sie seine Mail ja auch immer noch unter den Tisch fallen lassen!
Mit einem beherzten Mausklick öffnete Jessica Mahler die ominöse WICHTIG-Mail, doch zumindest was das Ausheulen anbelangte, lag sie offenkundig daneben. Sven Strohtes Mitteilung war nur wenige Zeilen lang:
Heute Abend, 21 Uhr 30 in der Hütte von Lukas’ Eltern.
Jessica Mahler schob sich eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr.
Komm unbedingt, es geht um alles!
Alles? Was hieß das? Was zur Hölle konnte so wichtig sein, dass er sie zu einer solchen Unzeit an einen derart abgelegenen Ort bestellte?
Sie scrollte die Mail ab, auf der Suche nach etwas, das die Sachlage näher erklärte, aber alles, was sie fand, war eine knappe, abschließende Grußformel.
Bis dann, Sven
Mit einer Mischung aus Empörung und Verwunderung ließ Jessica Mahler die Maus los und lehnte sich zurück.
Komm unbedingt …
Den Teufel werde ich tun!, dachte sie. Was bildete sich dieser Klavier spielende Trottel eigentlich ein, dass er glaubte, ihr gegenüber einen Befehlston wie beim Militär anschlagen zu können?!
Andererseits …
Jessica Mahler bekaute nachdenklich ihre Unterlippe.
Es geht um alles!
Was, wenn er tatsächlich mit neuen Informationen aufwarten konnte?
Sie starrte auf den Bildschirm und fühlte, wie ihre Neugier allmählich die Oberhand gewann. Etwas war dran an dieser ganzen Sache, von der er ihr da gestern erzählt hatte, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien er sie zu seiner Vertrauten auserkoren zu haben – eine Rolle, die ihr alles in allem zwar nicht sonderlich behagte, aber die Aussicht, etwas in Erfahrung zu bringen, was außer ihr noch kein anderer wusste, war nichtsdestotrotz mehr als verlockend!
Sie überlegte, ob sie ihm antworten sollte, aber nachdem sie die Mail noch einmal durchgelesen hatte, beschloss sie, dass ein Ton, wie er ihn ihr gegenüber anschlug, wahrhaftig keine besonderen Anstrengungen in Sachen Höflichkeit verdiente. Also verschob sie die Mail in ihr Archiv kurioser Nachrichten und überlegte, mit welcher Ausrede sie ihrem Cousin ausgerechnet an einem Samstagabend seine innig geliebte Vespa abschwatzen konnte, um sich eine Parforce-Tour wie vor zwei Tagen zu ersparen.
5
Es war eine knappe halbe Stunde vor Ladenschluss, und Winnie Heller stand vor einem Regal voller Fischfutter. Gütiger Himmel, dachte sie, diese Hersteller denken sich aber auch wirklich alle paar Wochen etwas Neues aus! Und der Umstand, dass die Mitarbeiter der Zoohandlung ihren Laden alle zwei Tage von Grund auf umzuräumen schienen, machte das Einkaufen auch nicht gerade leichter. Winnie Heller schüttelte ärgerlich den Kopf. Wo war denn bloß dieses verdammte Algenzeug hingekommen, auf das Papageno so stand? Immerhin war er ihr Ältester und hatte schon allein aus diesem Grund ein gewisses Anrecht auf gelegentliche Extrawürste. Darüber hinaus war er für einen Wels wirklich bemerkenswert wählerisch, und wenn sie da mit dem falschen Futter nach Hause kam … Oh nein, dachte sie, indem sie die hübsch gestaltete Packung mit Trockenfutter, die sie in der Hand gehalten hatte, um die Zusammensetzung zu studieren, wieder in die Lücke im Regal zurückschob. Ein schief hängender Haussegen ist wirklich das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann!
Sie wollte gerade nach einer Dose mit Kraftfutter greifen, als sie hinter sich eine Stimme hörte.
»Das ist aber nett, dass wir uns so bald einmal wiedersehen …«
Winnie Heller drehte sich um und blickte in ein Gesicht, das ihr bekannt vorkam, ohne dass sie es auf Anhieb einordnen konnte. Doch dann fiel es ihr auf einmal wie Schuppen von den Augen: Vor ihr stand Lübkes angestaubtes Flittchen!
Bei Licht betrachtet, wirkte die Frau noch ein gutes Stück älter, als Winnie Heller sie in Erinnerung hatte. Gut, ihre Wangen waren noch genauso rosig wie neulich Nacht, aber die Haut an Kinn und Hals zeigte trotz großzügiger Unterfütterung durch diverse subkutane Fettdepots eine Reihe von wenig erbaulichen Knitterfältchen, auch wenn sich Marie Wer-auch-immer redlich bemühte, das Schlachtfeld unter einem üppigen schwarzen Federschal verschwinden zu lassen, der
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