Querschläger
Marie Altes-Flittchen, indem sie sich ihren Federschal noch ein wenig enger um ihren faltigen Hals zog. »Wenn überhaupt. Also seien Sie so gut und tun Sie dem armen Kerl nicht allzu weh, ja?«
Winnie Hellers Überraschung über diese unerwartete Bitte war so groß, dass sie einen Moment brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen. »Wie um alles in der Welt sollte ich Lübke denn wehtun?«
Der Blick der anderen drückte deutlich aus, dass sich eine Antwort auf diese Frage ja wohl erübrige.
Na toll!, dachte Winnie Heller ärgerlich. Erst schleuderst du solche merkwürdigen Thesen in den Raum, und dann verfällst du in verstocktes Schweigen! »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen«, entgegnete sie würdevoll, als ihre Gesprächspartnerin keinerlei Anstalten zu einer Erklärung erkennen ließ. »Lübke und ich sind einfach nur Kollegen, falls Sie das nicht wissen sollten. Wir sehen uns gelegentlich auf der Arbeit und spielen alle paar Wochen zusammen Poker. Aber seien Sie ganz unbesorgt, ich werde darauf achten, dass er hin und wieder auch mal gewinnt, okay?«
Marie Wer-auch-immer schien nachzudenken. »Er ist wirklich ein wunderbarer Mensch, der Jupp«, sagte sie nach einer Weile, und etwas an ihrem Tonfall war anders als zuvor. Da war ein Hauch von Strenge in ihren Worten, als sie weitersprach. Strenge und auch eine Warnung. »Und so viel verletzlicher, als er aussieht.«
»Ich weiß«, hörte Winnie Heller sich sagen, bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte, und zum ersten Mal im Verlauf dieser Unterhaltung huschte ein Lächeln der Sympathie über das Gesicht der anderen.
»Gut«, sagte sie. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging davon.
6
Als Jessica Mahler den Motor ausschaltete und die Scheinwerfer erloschen, umfing sie beängstigende Dunkelheit. Wie verrückt muss man sein, dachte sie, um diese Uhrzeit hier herauszukommen? Noch dazu, wo sie sich an diesem Ort schon einmal so sehr gefürchtet hatte, dass ihr beinahe das Herz stehen geblieben wäre …
Sie bockte die Vespa auf und stolperte über den aufgeweichten Waldboden auf den Grillplatz zu, wobei sie einen Blick auf das erleuchtete Display ihrer Armbanduhr warf. Kaum mehr als fünf Minuten zu früh, wie sie feststellte. Trotzdem gab hier nichts einen Hinweis auf die Anwesenheit einer zweiten Person. Kein Auto, kein Mofa oder Fahrrad, kein Lichtschein, der aus den Ritzen zwischen den hölzernen Fensterläden sickerte.
Nur tiefes, beängstigendes Waldesdunkel.
Der Rosmarin stand an seinem angestammten Platz, und auch der Schlüssel zur Hütte lag genau dort, wo sie ihn schon einmal vorgefunden hatte, was wohl bedeutete, dass Sven tatsächlich noch nicht da war. Sie blieb unschlüssig stehen und blickte sich um, ohne allzu viel erkennen zu können. Von den Bäumen ringsum nahm sie nur vage Umrisse wahr. Hohe, dunkle Schatten, die sie wie eine Gruppe überdimensionaler Wächter umstanden und aus erhabenen Sphären auf sie herabzublicken schienen. Jessica Mahler zog fröstelnd die Schultern hoch. Der Wind, der die heftigen Schauer der vergangenen Stunden begleitet hatte, war inzwischen wieder abgeflaut, aber nichtsdestotrotz war da ein leises Rauschen, hoch oben in den Baumkronen. Eine sanfte, gleichmäßige Bewegung der Zweige.
Es könnte schön sein hier draußen, dachte sie wie schon vor zwei Tagen. Wenn man nicht allein wäre.
Wenn man jemanden hätte, in dessen Gegenwart man sich sicher fühlen könnte.
Beschützt.
Sie fuhr herum, als sie im Unterholz, ganz in ihrer Nähe, ein Knacken hörte. Wie von einem trockenen Ast, der unter einem Gewicht zerbrach. Ein Wildschwein vielleicht, dachte sie, oder schlafen die um diese Uhrzeit?
Wohl kaum, widersprach ihr Verstand, sonst würden Jäger ja nicht nachts auf die Pirsch gehen, oder?
Also ein Wildschwein! Jessica Mahler nickte tapfer vor sich hin, während die klammen Finger des Waldes von allen Seiten nach ihrem Körper zu greifen schienen. Obwohl der Reißverschluss ihrer Windjacke bis zum Kinn hochgezogen war, fühlte sie sich wie in einem Kühlhaus. Eingeschlossen, tiefgefrostet, auf Eis gelegt mit einem Haufen toter Tiere.
Ihre Augen wandten sich wieder dem nahen Waldrand zu, den Schemen der Bäume, und fast war ihr, als beobachte sie jemand. Aber das war ganz sicher Einbildung. Überreizte Nerven, was ja beileibe kein Wunder war nach den Belastungen der letzten Tage!
Sie drehte den Schlüssel zu Erich Wertheims Jagdhütte zwischen ihren Fingern hin und her, während sie
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