Querschläger
überlegte, wie sie nun weitermachen sollte. Wo sollte sie warten? Hier draußen, wo sie zwar frei war, aber wo der Wald bedrohlich nah an sie heranreichte und sie mit seinen Geräuschen und Unwägbarkeiten bedrohte? Oder doch lieber in der Hütte mit all ihren unseligen Erinnerungen und den hohläugigen Rehschädeln an den Wänden?
Wenn er doch nur endlich auftauchen würde!, fluchte sie im Stillen und sah wieder auf die Uhr. Schon drei Minuten über Soll, aber der feine Herr Klavierspieler dachte überhaupt nicht daran, zu erscheinen! Ob er sich am Ende einfach einen dummen Scherz mit ihr erlaubt hatte? Ob er zu Hause saß, jetzt, in diesem Augenblick, und sich halb tot lachte bei der Vorstellung, dass sie hier draußen im Wald stand wie bestellt und nicht abgeholt?
Jessica Mahler biss ärgerlich die Zähne zusammen und entschied, dass es aller Bedenken zum Trotz angenehmer wäre, in der Hütte zu warten. Wenigstens noch zehn Minuten. Wenn Sven Strohte dann immer noch nicht aufgetaucht war, konnte sie getrost wieder abziehen, ohne dass sie sich hinterher vorwerfen musste, eine wichtige Chance vertan zu haben. Und überhaupt, warum sollte er nicht kommen? Er machte ganz und gar nicht den Eindruck, als ob er besonders viel Humor hätte, und bis jetzt war er ja auch immer freundlich und kooperativ gewesen. Bestimmt ist er einfach aufgehalten worden, dachte sie, und ganz sicher gibt es auch einen triftigen Grund, warum er mich ausgerechnet an diesen gottverlassenen Ort bestellt hat. Und dieser Grund hatte aller Voraussicht nach herzlich wenig mit der schönen Aussicht in den Wald zu tun, sondern vielmehr mit der Hütte selbst.
Mit der Hütte …
Der Hütte …
Jessica Mahlers Hand krampfte sich um den Schlüssel, als sie, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, der moosigen Veranda entgegenging. Die Taschenlampe, die sie sich eingesteckt hatte, wagte sie nicht zu benutzen. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem sie es neulich, bei der Durchsuchung der Hütte, vermieden hatte, das Licht einzuschalten. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Unauffällig bleiben. Sich tot stellen. Ein Prinzip, das sich in den letzten Tagen durchaus bewährt hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und suchte das finstere Einheitsdunkel zu ihren Füßen nach Unebenheiten ab, die ihr gefährlich werden konnten. Von Zeit zu Zeit fiel etwas Licht vom Himmel, immer dann, wenn die Wolkenfetzen wieder einmal für einen kurzen Augenblick die Sicht auf den Mond freigaben, aber meistens sah sie kaum, wo sie hintrat. Um sich selbst ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, tastete sie nach ihrem Handy, das griffbereit in der Tasche ihrer Windjacke steckte, und nur mit äußerster Mühe widerstand sie der Versuchung, es herauszuziehen, ihre Mutter anzurufen und sie zu bitten, sich in ihren alten Audi zu setzen und so schnell wie möglich herzukommen, um sie mit nach Hause zu nehmen, wo es warm war. Warm und sicher.
Spinnst du?!
Sie würde dich für verrückt halten! Für komplett durch geknallt!
Und genau das bist du auch!
Jessica Mahler tastete sich weiter. Im Gehen verspürte sie wiederholt den Impuls, sich umzudrehen. Aber sie wollte diesem Impuls auf keinen Fall nachgeben. Da war nichts. Niemand, der sie anstarrte. Nur Wald. Bäume. Von ihr aus auch ein Wildschwein. Oder zwei oder drei, haha. Wie hieß denn das bei Wildschweinen? Herde? Rotte? Na, wie auch immer, jedenfalls kein Mensch. Niemand außer ihr war so blöd, in tiefster Dunkelheit hier herauszukommen.
So ähnlich hast du vorgestern auch argumentiert, mahnte ihr Verstand. Und erinnere dich, wie gut deine Rechnung aufgegangen ist!
Okay, gut, Sven würde kommen. Aber der zählte irgendwie nicht.
Warum eigentlich nicht?
Ihr rechter Fuß tappte geradewegs in eine Wasserlache, und schmatzend gab der durchweichte Boden unter ihr nach. Jessica Mahler hielt erschreckt den Atem an, als sie auf dem glitschigen Schlamm wegrutschte, und erst im buchstäblich letzten Moment gelang es ihr, das verlorene Gleichgewicht zurückzugewinnen. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen kämpfte sie sich weiter, wobei sie dazu überging, die Füße dicht über den Boden gleiten zu lassen, bevor sie das Gewicht auf das entsprechende Bein verlagerte. Sie durfte auf keinen Fall riskieren, sich hier draußen zu verletzen. Sie musste mobil bleiben. Fluchtbereit.
Die Stufen zur Veranda waren regennass und glatt wie Seife, und Jessica Mahler musste die nächste
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