Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenblut drängt (German Edition)

Rabenblut drängt (German Edition)

Titel: Rabenblut drängt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikola Hotel
Vom Netzwerk:
ahnen, welche Sehnsucht das in mir wecken würde.  
    Wann hatte ich das letzte Mal Musik gehört? So lange hatten wir die Nähe der Menschen gemieden, dass Musik für mich nur noch Erinnerung war. Ein Andenken, ein unerreichbares Denkmal - tief vergraben. Ich hatte damals vieles zurückgelassen, aber die Musik hatte mir das größte Opfer abverlangt.
    »Gibt es hier ein Radio?« Es war die erste Frage, die ich ihr stellte.
    »Hier nicht. Das würde die medizinischen Geräte stören. Manche sind sehr empfindlich.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur Geduld! Ich bringe Sie nach dem Frühstück auf Station fünf, dort kann man bestimmt eins für Sie auftreiben.«
    Frühstück? Natürlich - als Mensch begab man sich nicht unter freiem Himmel auf die Suche nach etwas Essbarem. Man ging einkaufen, kochte und verzehrte es. Oder man beauftragte einen Bediensteten damit. Ich musste die Mahlzeit hinter mich bringen, auch wenn es mir wahrscheinlich nicht schmecken würde.
    Meine Vermutung bestätigte sich. Weißes Brot und ein Aufstrich von undefinierbarer rotbrauner Konsistenz, vermutlich Marmelade. Dazu ein blassgrüner Kräutertee. Ich würgte alles hinunter, in der Hoffnung, mich damit zu stärken.
    Mein neues Apartment war ein kahles Zweibettzimmer, immerhin mit einem großen Fenster zum Park. Aber das Wetter war trüb und ließ nur diffuses Licht herein. An der Wand neben der Garderobe kletterte ein kleiner Affe mit blauem Gesicht die Ranken an einem Fenster hoch. Au visage bleu , ein Kunstdruck von Maria Čermínová. Ich interessierte mich aber nicht für surrealistische Kunst und wandte mich lieber meinem Zimmernachbarn zu, einem großen, korpulenten Mann mit Gipsbein, der bis zu meinem Eintreffen im Rollstuhl gedöst hatte. Sein Hemd war über dem massigen Bauch hochgerutscht und entblößte einen Streifen behaarter Haut.  
    »Wadenbein gebrochen«, erklärte er mit sonorer Stimme, während er mich musterte.
    »Bin kein Sportler, wie man sieht, hehe. Aber was tut man nicht alles für die Enkel? Wollten unbedingt mit mir Fußball spielen, und dann hat der kleine der zwei Teufel mir den Ball zwischen den Füßen weggetreten. Und bei Ihnen?«
    Ich wusste nicht, was ich ihm darauf antworten sollte. Aber bei Lügen musste man so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.
    »Jagdunfall. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, ergänzte ich, um weitere Fragen zu vermeiden.
    »Mmpf«, er kaute sichtlich an meiner Antwort. »Wenn Sie mich fragen, es gibt wieder viel zu viele Wölfe und Bären hier. Kommen alle aus Polen rüber. Und dann die Tollwut, und was die nicht sonst noch alles für Krankheiten einschleppen. He, was ist denn los?«
    Ich hatte mich vorgebeugt und gelauscht.
    »Hat die Alte die Tür nicht richtig zugemacht?« Er versuchte seinen Rollstuhl in Richtung Flur zu bugsieren. »Jetzt dreht sie wieder auf!« Er trat mit seinem Gipsbein nach der Tür.
    »Halt, warten Sie!« Ich rutschte an den Rand des Bettes. Mein Arm schmerzte entsetzlich und in meinem Kopf wirbelte ein Bündel Herbstlaub durcheinander. Aber ich hatte eindeutig Musik gehört.
    »Ist ne Verrückte. Will am Liebsten den ganzen Tag den Flur mit so ner Fiedelmusik beschallen. Die Schwestern können alle paar Minuten hinrennen, um das Ding leiser zu drehen.«
    Ich schwang meine Beine über die Bettkante und bereute diese Eile sogleich. Alles drehte sich. Ich hatte mein zweites Gleichgewichtsorgan mit meiner Rabengestalt verloren und war nun völlig auf mein Innenohr angewiesen. Außerdem spürte ich die Luftkräfte über meine Federn nicht mehr. Trotzdem war der Gedanke beunruhigend, dass mein Körper es vielleicht verlernt hatte, sich umzugewöhnen.
    Doch die Musik lockte. Ich tastete mich am Bettrand entlang und stützte mich an der Wand ab.
    »Ist das Ihr Morgenrock?«, fragte ich. Mein Bettnachbar nickte verwirrt.
    »Ich leihe ihn mir nur kurz aus«, sagte ich und warf mir den Mantel über die Schultern. Dann war ich zur Tür hinaus. Er rief mir noch etwas hinterher, aber ich hörte nicht hin.
    Ich taumelte den Flur entlang, bis ich eine keifende Stimme hörte.
    »Lassen Sie Ihre schäbigen Finger von meinem Radio!«, zeterte sie. »Das ist ein Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier, Sie Bildungsphilister! Wagen Sie es nicht!«
    Es folgte eine Antwort, die wohl beruhigen sollte.
    »Finger weg von meinem Bach! Sie verderben ja alles!«
    Ich hangelte mich durch die Tür. Dieses Rauschen war unerträglich.
    » Was machen Sie denn

Weitere Kostenlose Bücher