Rabenblut drängt (German Edition)
hier?«
Vorsichtig drehte ich am Einstellknopf herum. Behutsam, fast zärtlich, bis sich das kreischende Geräusch in diese wundervollen, legatogespielten Töne verwandelte, die ich seit so vielen Jahren nicht gehört hatte. Ich seufzte erleichtert. Die Musik strömte durch mich hindurch - durch jede Pore. Sie vibrierte in mir nach, verknüpfte sich, umschlang alles und floss mir dann in stummen Tränen übervoll aus den Augen.
»Endlich ein vernünftiger Mensch hier in diesem Haus«, sagte die Alte.
Schweißblässe
H aben Sie die Anziehsachen mitgebracht?«, fragte mich die Krankenschwester in befehlsgewohntem Ton. Ihr Englisch war gut, jedenfalls besser als das der Frau, die an diesem Morgen angerufen hatte. Eigentlich hatte sie ja Marek sprechen wollen, aber der war gerade mit seinen Kamerabeobachtungen beschäftigt gewesen, und so hatte ich den Anruf entgegengenommen.
Ich deutete auf die Plastiktüte, die unter meinem Arm klemmte und nickte. Mit seltsam gemischten Gefühlen war ich hierher ins Krankenhaus gefahren. Marek hatte mir den Jimny überlassen und war mit dem Fahrrad losgezogen, und Lara hatte bereits gestern Abend angekündigt, sie wäre heute den ganzen Tag mit der Umgestaltung der Homepage beschäftigt. Wenn ich mich nicht danach sehnen würde, mich in HTML zu üben, sollte ich sie tunlichst in Frieden lassen.
Der Anruf war von einer Frau Němcová aus der Verwaltung des Krankenhauses gewesen. Sie hatte mir mitgeteilt, dass der Patient › Alexej Nepovím ‹ heute entlassen werden könnte und gefragt, wann wir ihn abholen würden. Im ersten Moment war ich ziemlich überrascht. Auf weitere Nachfragen verstand ich nur soviel, dass Herr Nepovím keine Angaben zu seiner Familie hatte machen können, und Nachforschungen über die Sozialarbeiter zu keinem Ergebnis geführt hatten. Sicher gab es Nepovíms genug, aber es wurde niemand mit Namen Alexej vermisst oder war ihnen auch nur bekannt. Außerdem sei Alexej gar kein tschechischer Name.
Alexej.
Ich ließ den Vornamen langsam über meine Lippen gleiten. Dann erzählte sie mir noch etwas über Krankenkassen und Kostenübernahme und dass ich Herrn Nepovím nach der Visite um halb elf abholen sollte und ihm etwas zum Anziehen mitbringen müsste. Er hätte seltsamerweise keinerlei Garderobe dabei. Ach nein? Wer wusste das besser als ich!
Marek war über das Handy nicht zu erreichen gewesen, und Lara hatte nur geschimpft, ich solle den Fremden halt in Dreiteufelsnamen abholen, und weiter in die Tastatur gehämmert.
Jetzt war ich also hier. Und das mit einem ziemlichen Geröllhaufen in der Magengrube. Was sollte ich mit diesem Mann anfangen? Und was machte ich, wenn ihm die Klamotten nicht passten? Ich hatte sie einfach aus Mareks Schrank stibitzt. Sicher würden sie ihm zu weit sein. Marek war etwas füllig um die Mitte rum, dafür aber recht groß. Und wenn ich mich richtig erinnerte, war der Eremit alles andere als kräftig.
Ob er sein Gedächtnis verloren hatte? War es dann nicht normalerweise Aufgabe der Polizei, herauszufinden, wer er war und wohin er gehörte?
Ich umkrampfte die Plastiktüte fester und dankte Gott, dass ich an die Unterwäsche gedacht hatte. Wie unendlich peinlich, wenn ich die vergessen hätte!
Die Schwester neben mir schritt schnell aus. Wir betraten den Aufzug und fuhren, eingezwängt zwischen einem Rollstuhlfahrer und einem riesigen Rollwagen, der die Frühstückstabletts transportierte, in den zweiten Stock.
»Melden Sie sich dort hinten im Schwesternzimmer, Nummer zweihundertneunzehn!«, gab sie mir mit auf den Weg und verschwand in einem Seitengang, über dem ein Schild mit der Aufschrift ambulance angebracht war. Ich suchte vergeblich nach der richtigen Zimmernummer und folgte schließlich dem lauten Geschnatter, das aus einem Raum in der Mitte des Ganges herausdrang. Zaghaft klopfte ich an die Tür, die nur kurze Augenblicke später aufgerissen wurde.
» Dobrý den !«, sagte eine junge Frau in weißem Kittel.
» Dobrý den . Guten Tag«, versuchte ich es auf Englisch.
»Ah, Moment«, antwortete sie und rief in den Raum hinein. »Tereza!« Es folgte ein Stühlerücken, und dann erschien eine ältere Frau, die gerade den letzten Zug ihrer Zigarette ausblies und stehend noch einen Schluck Kaffee hinunterspülte.
»Sie sind die Deutsche, die Herrn Nepovím gefunden hat?«
»Ich bin gekommen, um ihn abzuholen.« Ich knisterte mit der Tüte in meiner Hand. »Man hat mich heute Morgen
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