Rabenbrüder
anderes im Kopf, sagte Paul und dachte kurz an Olga.
»Vielleicht nistet sich der Typ immer bei Mama ein, wenn unser Vater wieder mal durch Abwesenheit glänzt«, sagte Achim, »vielleicht ... ach, Scheiße, laß uns jetzt den Krankenhausbesuch hinter uns bringen.«
Eine wachsame Ärztin fing die Brüder vor der Tür zur Intensivstation ab. »Wollen Sie zu Herrn Wilhelms? Sind Sie die Söhne?« fragte sie. »Kommen Sie doch bitte einen Moment ins Stationszimmer.«
O Gott, dachte Paul, nicht noch mehr Hiobsbotschaften.
Aber die Ärztin, die ihnen höflich einen Platz anbot, hatte eher Erfreuliches zu berichten. Heute früh sei der Vater auf die Allgemeinstation verlegt worden, weil es ihm bessergehe; allerdings könne er sich nur mühsam bewegen. Bei entsprechender Therapie werde er Fortschritte machen.
Aus einem anderen Grund wolle sie die Besucher aber vorwarnen.
Paul und Achim wechselten einen beunruhigten Blick.
»Wir haben immer wieder Patienten, die eine drohende Behinderung partout nicht akzeptieren wollen«, sagte sie, »sie entwickeln einen ohnmächtigen Zorn und lassen ihre Aggressionen an den Angehörigen aus. Ihre Mutter hat bei ihren Besuchen bei Gott nichts zu lachen; eine bewundernswerte Frau! Also nehmen Sie es Ihrem Vater nicht allzu übel, wenn er um sich beißt.«
»So haben wir ihn bereits als Kinder erlebt«, sagte Paul, »das ist nichts Neues für uns.«
Die Ärztin lächelte freundlich. »Dann trauen Sie sich jetzt in die Höhle des Löwen, ich lasse zwei Vasen für die schönen Sträuße bringen.«
Da keine Reaktion auf sein Klopfen erfolgte, öffnete Paul behutsam die Tür und trat ans Bett seines halbseitig gelähmten Vaters, Achim folgte. »Hallo, Paps!« sagten sie so herzlich und munter wie möglich.
»Die Aasgeier wittern Beute«, kläffte der Vater zur Begrüßung.
Da seine Söhne mit Bosheit oder gar Beleidigungen gerechnet hatten, blieben sie einigermaßen beherrscht.
Paul gelang sogar eine taktisch meisterhafte Replik: »Anscheinend hast du deinen galligen Humor nicht verloren, Papa. Das bedeutet bestimmt, daß es aufwärtsgeht.«
Achim rückte zwei Stühle ans Bett.
Nach weiteren Attacken verschlechterte sich die Stimmung und wurde immer gereizter.
Schließlich fragte der cholerische Patient: »Wo habt ihr eigentlich eure Frauen gelassen? Sind sie euch weggelaufen, weil ihr ihnen keine Kinder machen könnt?«
Paul stand auf. Sie kämen ein andermal wieder.
»Ja, schert euch endlich weg, ihr Versager«, rief der Vater, so laut es ihm seine leicht verwaschene Sprache gestattete. »Jahrelang hat man für die Ausbildung der Herren Söhne gezahlt und nichts als Undank geerntet. Packt euch heim zu euren Schlampen!«
»Wir sind wohl im Irrenhaus gelandet«, murmelte Paul, während Achim, kurz bevor er explodierte, zu zittern begann.
Paul vermochte seinen Bruder nicht mehr zu besänftigen. »Hast du Schlampe gesagt?« brüllte Achim. »Du hast es gerade nötig, du seniler Schlappschwanz! Wir haben soeben deine treusorgende Frau mit einem Liebhaber erwischt. Immer wenn du auf krank machst, treibt sie es mit einem Gigolo!«
»Komm«, flüsterte Paul, »du gehst zu weit! Er ist sehr krank und weiß nicht, was er sagt! Hinterher tut es ihm leid.« Um Schlimmeres zu verhüten, mußte er seinen schäumenden Bruder energisch zur Tür hinausschieben.
Schwer atmend gelangten sie auf den Krankenhausparkplatz und zündeten sich wie zuvor sofort eine Zigarette an. Das sei ja ein einziger Alptraum heute, stöhnte Paul; er könne Achims Wut nachvollziehen, fürchte aber, sein Bruder habe einen Riesenfehler gemacht. Der Vater dürfe sich auf keinen Fall aufregen, und bestimmt müsse die Mutter jetzt alles ausbaden.
»Und wenn schon«, sagte Achim trotzig.
Wieder saßen sie eine ganze Weile untätig im Wagen und beobachteten einige Pfleger und Krankenschwestern, die sich von einander verabschiedeten und sich schöne Feiertage wünschten. Paul hätte gern geweint.
Eigentlich brauche Paul dringend ein neues Auto, sagte Achim unvermittelt, er hätte da einen Vorführwagen, einen fast neuen Toyota Corolla Verso, den er günstig anbieten könne.
Paul schüttelte den Kopf. Im Augenblick stehe ihm nicht der Sinn danach. Außerdem müsse er am Dienstag Annettes Wagen von der Inspektion abholen und könne ihn zunächst benutzen. Diese Woche habe er sowieso noch Urlaub. Wann Achim wieder arbeiten müsse?
»Ach, ich seh’ das nicht so eng«, sagte sein Bruder. »Ich habe schließlich
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