Rabenbrüder
es alles andere als spaßig, wenn man ihn lächerlich machte. Er brummte etwas von Schmerzen und verzog sich ins Bett. Nach fünf Minuten steckte Achim den Kopf durch die Schlafzimmertür. »Hey, Bruderherz! Ich gehe ein bißchen an die Luft, bis nachher«, sagte er und begab sich hinaus in den naßkalten Tag. Kaum war er allein, sammelte Paul seine Zeichnungen ein und schloß sie weg. Am liebsten hätte er auch die Haustür verriegelt.
Am Nachmittag schlug Achim vor, die kranke Annette zu besuchen.
Es ging ihr offensichtlich besser, und sie berichtete mit matter Stimme: »Der Stationsarzt meint, daß es im Gesicht keine Narben geben wird. Bei Gelegenheit will Markus mit dir sprechen, aber jetzt hat er frei.«
Paul fragte, ob sie irgend etwas brauche.
Lesen sei ihr noch zu anstrengend, sagte Annette, sie schlafe meistens. Vielleicht ein wenig Obst? Es täte ihr leid, daß gar keine Vorräte im Haus seien, aber sie hätte ja nicht wissen können, daß Besuch ...
Paul unterbrach sie: »Achim hat eingekauft und gekocht, und zwar ausgezeichnet!«
Verwundert sah Annette zum Schwager auf. Ob er nicht Paul ein bißchen Unterricht geben könne? fragte sie, im Kochen seien sie nämlich alle beide eine Niete.
Als sie wieder zu Hause waren, stürzte sich Achim unverzüglich in die Küche. Zwar wünschte sich Paul, daß sein Bruder nach dem Abendessen abfahren würde, wollte aber auf ein gutes Abschiedsmenü ungern verzichten. Diesmal hatte das Essen keine mediterranen Anklänge, sondern bestand aus rheinischem Sauerbraten mit schwäbischen Spätzle.
»Ich dachte, du freust dich über eine Spezialität von
Mama«, sagte Achim, »allerdings weiß ich nicht genau, ob sie vorgekochte Spätzle kauft oder den Teig selber macht.«
»Wie kommst du auf so eine absurde Idee«, sagte Paul ungehalten, »Mama hat nie Fertigprodukte verwendet.«
»Da muß ich dich leider enttäuschen«, widersprach Achim. »Ich habe nämlich erst kürzlich mit ihr darüber gesprochen. Um Zeit zu sparen, hat Mama oft gemogelt. Eine Heilige ist unsere Mutter bestimmt nicht, dafür habe ich Beweise.«
Wahrscheinlich ahnte Achim nicht, daß seine Worte wie ein Keulenschlag wirkten.
Hatte er etwa doch mit der unheiligen Mutter geschlafen? Einen Moment lang fühlte sich Paul wie Kain, kurz bevor er seinen Bruder erschlagen hatte, nur daß Achim nicht der tugendhafte Abel war. Paul unterdrückte seine Wut, konnte aber nur mit äußerster Überwindung weiteressen. Achim hatte liebevoll gekocht, ihn aufmuntern wollen, hatte ihm als Chauffeur gedient und hätte wahrscheinlich diesen Tag lieber bei seiner Freundin verbracht. Paul sollte dankbar sein. Mühsam verkniff er sich aggressive Reaktionen und brachte nur ein kraftloses »Wann willst du eigentlich wieder abfahren?« heraus.
»Leider schon morgen«, sagte Achim, »aber ich denke, du kommst jetzt schon allein zurecht. Einer von uns muß sich schließlich um die Eltern kümmern.«
Am letzten gemeinsamen Abend saßen sie vor dem Fernseher und schauten sich einen uralten James-Bond-Film an, waren aber beide mit ihren Gedanken nicht bei der
Sache. »Hast du Fotos von deiner Freundin bei dir?« fragte Paul mitten in eine Liebesszene hinein.
Wortlos zog Achim eine Aktaufnahme aus der Brieftasche, die Paul anstandshalber mit einem beifälligen Pfiff kommentierte. »Was macht sie beruflich?« fragte er.
Gina arbeite im Empfang eines Nobelhotels und sei in mehreren Sprachen zu Hause. Über Ostern habe sie frei und sei zu ihrer Familie ins Tessin gefahren, in diesem Punkt sei sie relativ konservativ. Er verstehe kein Wort, wenn er dort zu Besuch sei, alle redeten italienisch, und zwar laut, schnell und viel.
Paul konnte dieses Mißbehagen ganz gut verstehen und erzählte von Annettes Vetter in Caracas, wo es ihn aus ähnlichen Gründen nicht hinzog.
Die wohlbekannten Verfolgungsszenen auf dem Bildschirm konnten Paul diesmal nicht mitreißen, ihn beschäftigten andere Dinge. Ob Achim nur deswegen den Samariter spielte, weil er sich ohne seine Freundin zu Tode gelangweilt hätte? Und ob die polyglotte Gina karrieresüchtig wie Annette oder hemmungslos wie Olga war? Paul gähnte demonstrativ, wünschte seinem Bruder eine gute Nacht und verkroch sich wieder frühzeitig im Schlafzimmer; 007 hatte noch längst nicht über Dr. No gesiegt.
Am Ostersamstag ließ sich endlich die Sonne einmal blik-ken. Obwohl Paul ziemlich spät aufwachte, schien sein Bruder immer noch fest zu schlummern. Nun, dann drehen wir den
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