Rabenbrüder
konnten Frauen lügen, wie plausibel klang ein Frisörbesuch, während man sich in Wirklichkeit vom Liebhaber Sekt ans Bett bringen ließ.
Plötzlich wechselte sie das Thema und fragte: »Weißt du zufällig, wo Achim ist? Ich kann ihn nicht erreichen. Allerdings hatte er schon immer einen gesunden Schlaf und wird nicht so schnell wach wie du!« Paul hatte keine Ahnung, aber durch ihre Frage wurde ihm klar, daß sie eigentlich ihren jüngeren Sohn zuerst hatte anrufen wollen.
In diesem eigentümlichen Zustand zwischen Erregung und Halbschlaf hatte Paul immer wieder das Gefühl, alle Ereignisse der letzten Tage seien ein böser Traum gewesen. Er hätte keine Schlaftabletten nehmen dürfen, denn er mußte einen klaren Kopf bewahren. Es war jetzt seine verdammte Pflicht, der Mutter bei organisatorischen Aufgaben beizustehen. Zum Händchenhalten würde sich Achim anbieten, falls nicht schon ein anderer an ihre Seite geeilt war. Es war jedoch zu erwarten, daß sie das baldige Eintreffen ihrer Kinder erwartete und ihren Lover vorerst auf Distanz hielt.
Je länger er sich im Bett herumwälzte, desto klarer realisierte Paul, daß sein Vater nicht mehr lebte. Nach und nach machte er sich auch Gedanken, inwieweit man die
Mutter, den Bruder oder sogar ihn selbst für den Tod des Vaters verantwortlich machen konnte. Barfuß und im Schlafanzug tappte er nach einer halben Stunde in die Küche und rührte sich einen starken Instantkaffee an, saß mit dem Becher in der Hand auf einem unbequemen Hocker und starrte lange in die schwarze Brühe.
Gerade in den letzten Wochen hatte er häufig an seinen Papa gedacht und bedauert, daß sie so selten ins Gespräch gekommen waren. Im Grunde wußte Paul sehr wenig über die Kindheit und Jugend seines Vaters. Hatte er vor seiner späten Ehe Freundinnen gehabt? War er während seiner Kuraufenthalte und Geschäftsreisen fremdgegangen? Hatte er seine Familie geliebt, obwohl er sie tyrannisierte? Wie hatte er es verkraftet, daß die Mutter durch ein spätes Erbe zu mehr Geld gekommen war als er selbst durch jahrzehntelange Arbeit? Fragen über Fragen, auf die Paul wohl nie mehr eine Antwort erhalten würde.
Obwohl er ihren Seitensprung von ganzem Herzen mißbilligte, machte ihm die verhaltene und häufig stockende Stimme seiner Mutter große Sorgen. Er kannte sie gut genug, um ihre Verzweiflung herauszuhören. Da sie ihren kranken Mann wohl nur deshalb nicht am Vormittag besucht hatte, um mit ihrem Geliebten stundenlang im Bett liegen zu können, hatte sie allen Grund für Gewissensbisse. Immer wieder suchte Paul nach Erklärungen für ihr Verhalten. Vielleicht hatten die Eltern seit Jahren ein Abkommen, das beiden Partnern die Freiheit für eine außereheliche Beziehung gab. Andererseits war das bei seinem konservativen und autoritären Vater kaum vorstellbar.
Auch Paul betrog seine Frau; es stand ihm nicht an, seine Mutter dafür zu verurteilen. Vor seinem geistigen Auge strömte der Main, auf dessen Fluten die rosagekleidete Mutter wie eine hingestreute Blüte trieb. Reichlich verstört griff er zum Telefon. Leider hörte er diesmal nur das Besetztzeichen.
Kein Sugardaddy
Am Ostersamstag hatte Annette zwar auf Pauls Besuch verzichten müssen, aber dafür erschien ihre Sekretärin mit einem Blumenstrauß und einer österlichen Schokoladenkollektion. »Die Süßigkeiten sind vom Chef«, sagte Jessica. »Sei froh, daß er dir keine Viererpackung Quark schickt; Ostereier kann man wenigstens weiterverschenken.«
Nach einem anfangs lustigen Gespräch mußte Annette etwas enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß sie in der Firma durchaus entbehrlich war. Ihre Reise nach Venezuela war problemlos auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Nachdem sich ihre Mitarbeiterin schon bald wieder verabschiedet hatte, weil sie ihren Freund nicht allzu lange warten lassen wollte, blätterte Annette gelangweilt in der Frauenzeitschrift, die ihr Jessica hinterlassen hatte. Eine Wirtschaftszeitung wäre ihr lieber gewesen.
Für heute war wohl keine weitere Abwechslung in Aussicht, denn leider lag sie auf der chirurgischen Abteilung, für die Markus nicht zuständig war.
Als er am Nachmittag trotzdem bei ihr hereinschaute, war sie freudig überrascht. »Ich dachte, du hättest frei?« fragte sie.
Das stimme schon, er sei nur rasch gekommen, um Unterlagen für ein Gutachten herauszusuchen.
»Süß siehst du aus«, sagte er herzlich, aber Annette empfand sein Kompliment als peinlich. Dieser Hauch von einem
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