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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Negligé war zwar als Fluggepäck ideal, mochte aber nicht so recht ins Krankenhaus passen. Ohne lange zu überlegen, hatte Paul ihrem Koffer zwei seidene Hemdchen entnommen. Natürlich hatte er es gut gemeint, aber die Krankenschwestern guckten befremdet.
    Zum Glück schien Markus nicht zu glauben, Annette wolle die Ärzte verführen, denn er fragte ein wenig anzüglich: »Und wo bleibt dein Göttergatte?«
    Annette verzieh ihm diesen Ausdruck. Für heute habe sich Paul abgemeldet, es gehe ihm wohl nicht gut, sagte sie. Wann sie wieder nach Hause dürfe?
    Markus wollte dem Kollegen von der Chirurgie zwar nicht vorgreifen, aber aus seiner Sicht sprach nichts gegen eine baldige Entlassung. »Wahrscheinlich werden sie deinen Arm noch mal röntgen, und wenn er gut heilt, kann Paul dich am Dienstag abholen«, meinte er.
    Gut gelaunt schlug Markus vor: »Komm doch noch auf einen Sprung in mein Zimmer, dann kannst du testen, wie dir ein kleiner Spaziergang bekommt.« Behutsam half er Annette, den Ärmel des Kimonos über den Gips zu streifen.
    Über endlose Flure wanderten sie Arm in Arm bis zur inneren Abteilung, wo Markus die benötigten Krankenblätter und das Diktiergerät holen wollte.
    In seinem Dienstzimmer ließ sich Annette in einer kleinen Sitzecke mit blauen Sesseln nieder und sah sich neugierig um. Auf dem Schreibtisch stand ein Foto in silbernem Rahmen, allerdings war der bemerkenswerte Bauch der neuen Freundin noch unsichtbar. Annette fragte unschuldig: »Ist sie das?«
    Es schien fast so, als habe Markus den Ausflug nur deshalb angeregt, um von der ersten Begegnung mit seiner Liebsten zu erzählen: Krystyna stand pfeifend auf einer Leiter und putzte gerade die Fenster seines Zimmers. Angetan von ihrer Fröhlichkeit, verwickelte Markus sie in ein längeres Gespräch. Er erfuhr, daß sie - genau wie seine Großmutter - aus Wroclaw stammte und dort Germanistik studierte. Um Geld zu verdienen und ihre Sprach-kenntnisse zu verbessern, arbeitete sie in den Semesterferien in Deutschland. Inzwischen wohne er mit Krystyna zusammen, und sie besuche die hiesige Universität. »Und jetzt halt dich fest: Wir erwarten ein Baby!«
    Noch nie zuvor hatte Annette so viel Glück und Vorfreude eines werdenden Vaters gesehen. Immerhin wurde Markus bald fünfzig und hatte diesbezügliche Hoffnungen längst begraben. »Weiß Olga Bescheid?« fragte sie und erfuhr, daß Olga zwar über eine neue Partnerin, nicht aber über Krystynas Schwangerschaft informiert sei.
    »Ehrlich gesagt«, sagte Markus, »habe ich mich bisher um die Beichte gedrückt; schließlich haben wir uns jahrelang ein Kind gewünscht. Wenn es jetzt bei einer anderen Frau auf Anhieb geklappt hat, wird es Olga weh tun.«
    Ohne zu überlegen, sagte Annette: »Früher wollte ich eigentlich keine Kinder haben, aber plötzlich wird mir bewußt, daß mein Verfallsdatum bald überschritten ist.«
    Markus nickte. »Dann mal ran! Was hält denn Paul davon?«
    »Er hat noch keine Ahnung«, seufzte Annette. »Wie alt ist sie eigentlich, deine Krystyna?«
    Er runzelte leicht verdrossen die Stirn. »Ich bin fast doppelt so alt. Ja, ich weiß schon, was du denkst: Ein Mann in der Midlife-crisis lechzt nach frischem Blut, eine junge Frau aus einem armen Land findet den reichen alten Sack, der dumm genug ist, sie zu schwängern. Ob du es nun glaubst oder nicht, in unserer Beziehung spielt weder das Alter noch die soziale Stellung eine Rolle.«
    Annette nickte und versuchte, einen restlos überzeugten Eindruck zu machen. Markus hatte bei der Altersfrage empfindlich reagiert, da war Vorsicht geboten. Um ihn versöhnlich zu stimmen, meinte sie: »Du hast mich falsch verstanden, meine Frage war keineswegs kritisch gemeint. Ich weiß genau, daß du kein Sugardaddy bist.«
    Schon die Erwähnung dieses Ausdrucks ließ Markus zusammenzucken, doch er sagte nur: »Komm, ich bring’ dich wieder zurück!«
    Als sie endlich am Bett anlangten, wurde es Annette sekundenlang schwarz vor den Augen. Tapfer ließ sie sich nichts anmerken und dankte Markus für seine Anteilnahme. Zum Abschied wollte er ihr die Hand reichen, aber sie zog ihn dicht an ihr Gesicht herunter. Aus unerklärlichem Grund kamen ihr die Tränen. »Entschuldige«, sagte sie, »ich bin im Moment wahnsinnig anlehnungsbedürftig.«
    Dann war sie allein und überlegte, ob Markus etwas von Pauls und Olgas Affäre ahnte. Falls nicht, sollte sie ihn darauf hinweisen? Früh brachte man ihr zum Abendessen den Hagebuttentee und zwei

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