Rabenbrüder
als er Achims infantilen Vorschlag widerspruchslos befolgte. Die Haustür ließ sich leise öffnen. Wie verschwörerische Lausbuben huschten die Brüder durch die Diele, sprangen dann mit einem Satz in die Küche und riefen wie in Kindertagen: »Hände hoch! Das ist ein Überfall!«
Aber es war nicht die lachende Mutter, die in einer mehligen Schürze herumwirbelte, sondern ein fremder Mann im offenen Bademantel. Der Schreck war wohl auf beiden Seiten gleich groß. Der Fremde hatte gerade Orangen ausgepreßt und stellte Obst und Käsegebäck auf ein Tablett. Paul bemerkte auch zwei leere Sektgläser. »Was machen Sie hier? Wo ist unsere Mutter?« fragte er fassungslos.
Der Fremde zurrte den Frotteegürtel um den muskulösen Körper und machte einen beschämten Eindruck. Im übrigen schien er nur wenig älter als Paul zu sein und sah gut aus. »Lassen Sie mich erklären«, begann er und brach hilflos wieder ab.
Achim ballte gut sichtbar die Fäuste.
Der Mann versuchte einen zweiten Anlauf. »Die Situation ist auch für mich nicht einfach. Ich bitte Sie vor allem, Ihre Mutter nicht in Verlegenheit zu bringen, sie hat genug Sorgen. Wenn Sie sofort das Haus verlassen und erst in einer Stunde wiederkommen, bin ich bis dahin spurlos verschwunden.«
Paul begriff und nickte betreten, aber Achim konterte: »Woher sollen wir wissen, daß unsere Mutter nicht ermordet in ihrem Bett liegt?«
Der Fremde lächelte ein wenig: »Ich schwöre, daß sie zwar im Bett liegt, aber durch und durch lebendig ist.«
Diese Bemerkung provozierte Achim derart, daß Paul seinen Bruder nur mit Mühe am Ärmel festhalten und wegzerren konnte. Während sie sich bereits der Haustür näherten, drehte sich Achim wieder um und brüllte: »Weißt du zufällig, in welchem Krankenhaus unser Vater liegt?«
Der Mann im Bademantel wußte es.
Kaum saßen Paul und Achim im Wagen, steckten sie sich beide mit zittrigen Händen eine Zigarette an. »Seit wann rauchst du wieder?« fragte Paul.
»Seit eben«, meinte Achim, ließ den Motor an und fuhr zwei Straßen weiter bis zum nächsten Parkplatz. »Wahnsinn, das ist doch Wahnsinn! Einfach nicht zu fassen! Nächstes Jahr wird Mama 60.«
»Sie sieht aber aus wie 49«, behauptete Paul, »wie alt mag ihr Galan wohl sein? Und woher kennt sie ihn überhaupt?« Er hatte das vage Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben, wahrscheinlich wohnte er in der Nachbarschaft.
Achim zuckte bloß hilflos mit den Schultern.
»Sag mal«, fragte Paul und inhalierte tief, »neulich hast du angedeutet, Mama sei alles andere als eine Heilige. Wie war das gemeint?«
Achim schüttelte den Kopf. Er wisse nichts Konkretes; hin und wieder habe sie geflunkert, ein wenig übertrieben, manches auch verschwiegen - mehr wolle er dazu nicht sagen. Verdächtig erscheine ihm eher ihr zwanghaftes Bemühen, möglichst jung, schlank und schön auszusehen. Wenn Besuch komme, habe sie zwar immer lecker gekocht, aber selbst kaum einen Bissen angerührt.
»Und wie sollen wir uns jetzt bloß verhalten?« grübelte Paul. »Vielleicht ist es wirklich am klügsten, wenn wir diese absurde Szene aus unserem Gedächtnis streichen und niemandem etwas darüber erzählen. Der Kerl hat recht, daß man seine Mutter nicht bloßstellen darf.«
Nach der zweiten Zigarette meinte Achim, auf keinen Fall könne er in einer Stunde bei der Mutter anklopfen und »Frohe Ostern« wünschen. Wenn Paul dazu imstande sei: bitte sehr. Aber sie ahne ja zum Glück nicht, daß ihre Söhne bereits in die Küche vorgedrungen waren - gesetzt den Fall, dieser Mensch habe dichtgehalten.
»Davon würde ich mal ausgehen«, sagte Paul. »Schließlich ist es auch für ihn bequemer, wenn sie keinen Nervenzusammenbruch kriegt. Das Schäferstündchen mußte er allerdings zügig beenden; soll sie sich ruhig darüber wundern!«
Beide schauten gedankenverloren durch die beschlagenen Scheiben, über deren Außenseite silberne Glitzertropfen liefen. Der Regen rauschte leise, die beiden frisch gekauften Sträuße verbreiteten einen frühlingshaften Duft nach Rosen, Hyazinthen und Erde. Eine Frau mit rot-violettem Gesicht kämpfte draußen mit ihrem Schirm. Unter dem gestreiften Mantel blitzte ihr Unterhemd und eine Kette aus Glaskugeln. Ein nasser Hund schien genau zu wissen, wohin er wollte, und lief in zügigem Tempo quer über den Parkplatz. Er hob nur einmal kurz das Bein an einem Autoreifen, um sofort seinen Weg zielstrebig weiterzuverfolgen. Der Köter habe auch nichts
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