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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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gekündigt; jetzt nehme ich mir alle Freiheit der Welt. Wenn ich demnächst selbständiger Unternehmer bin, kann ich so schnell keine Ferien mehr machen.«
    Als er endlich losfuhr, fragte Achim etwas lau, ob Paul noch zu ihm kommen und seine neue Wohnung besichtigen wolle? Er könne wieder kochen.
    »Nein, danke«, sagte Paul müde, »ehrlich gesagt möchte ich jetzt allein sein. Bring mich bitte zum Bahnhof.«
    Inzwischen schien Achim seine Unbeherrschtheit zu bereuen. Er fluchte nicht mehr, sondern bemühte sich um Haltung. Am Mainzer Hauptbahnhof bot er sogar an, rasch eine Fahrkarte zu kaufen. Paul holte währenddessen sein Gepäck aus dem Kofferraum und entdeckte das mobile Telefon unter zerknülltem Blumenpapier. In einem plötzlichen Impuls drückte er auf die Speichertaste, denn er hatte das dringende Bedürfnis nach einem Lebenszeichen seiner Mutter.
    Zu seinem Befremden vernahm er eine Tonbandansage: Autohaus Schmidt, guten Tag. Unser Geschäft bleibt bis einschließlich Ostermontag geschlossen. Verwirrt legte Paul auf und erkannte zu spät, daß sein Bruder ein ähnliches Handy besaß.
    Als Achim den Koffer auf den Bahnsteig getragen hatte, kaufte er unaufgefordert eine Zeitschrift für den Bruder.
    »Damit du dich nicht langweilst«, rief er, »bis bald, Paulemann!«
    So hatte man Paul seit seiner Kindheit nicht mehr genannt, und eigentlich konnte er es schon damals nicht ausstehen.
    Er ließ die Zeitschrift sinken und sah mit leerem Blick aus dem Fenster. Der Main hatte Hochwasser, die Bäume am Ufer bekamen nasse Füße. Man konnte sich gut vorstellen, wie sanft ein Ertrinkender mit der Strömung dahingleiten würde.
    Paul ließ seine Gedanken ebenfalls treiben und versuchte vergeblich, verwirrte Gefühle zu ordnen: Wut, Trauer, Schuld. Hätte er nicht Annette betrogen und eine gemeinsame Reise mit Olga geplant, wäre er gar nicht erst zum Flughafen gefahren. Und ohne jenen Unfall hätte Achim ihn niemals besucht und in weitere verhängnisvolle Aktionen verstrickt.
    Als er wieder zu Hause war, rief Paul als erstes im Marienkrankenhaus an. Er könne Annette heute nicht besuchen, es gehe ihm selbst nicht gut, sagte er, ohne auf ihre besorgte Frage einzugehen. Dann verbrachte er untätige Stunden auf dem Sofa, bis er schließlich zwei Schlaftabletten schluckte und früh zu Bett ging.
    Es war noch dunkel draußen, als Paul durch anhaltendes Telefonklingeln geweckt wurde. Er nahm den Hörer ab und sah schlaftrunken auf die Uhr.
    »Jean Paul«, schluchzte seine Mutter und konnte vorerst nur weinen. Schließlich brachte sie heraus, daß sein Vater gestorben sei.
    Noch in einem Niemandsland zwischen Wachsein und
    Traum gelang es Paul nicht, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Lächerlicherweise befürchtete er, seine Mutter könnte ihn für betrunken halten.
    Als disziplinierte Persönlichkeit faßte sie sich allerdings bald und berichtete, daß sie den Kranken bei ihrem gestrigen Besuch in einem unerklärlichen Erregungszustand angetroffen habe. Als er sie anschrie: Raus, raus, raus!, habe sie schleunigst den Raum verlassen, um ihn nicht noch mehr aufzuregen.
    Eigentlich hatte die Mutter vorgehabt, mit der Ärztin oder einer Krankenschwester zu sprechen, um auf das verfärbte Gesicht und den exaltierten Gemütszustand ihres Mannes hinzuweisen. Aber zufälligerweise befand sich an diesem Samstagabend gerade niemand im Stationszimmer. Pauls Mutter wußte zudem, daß sich der Kranke durch wiederholte Wutausbrüche auch beim Pflegepersonal unbeliebt gemacht hatte und sich keiner darum riß, häufiger als unbedingt nötig bei ihm hereinzuschauen. Nun fühlte sie sich schuldig, weil sie nicht länger nach einem Helfer gesucht hatte, sondern gekränkt nach Hause gefahren war. Heute in aller Frühe kam dann die Nachricht, der Vater sei - wahrscheinlich nach einem weiteren Schlaganfall - von der Nachtschwester tot aufgefunden worden. Die Mutter vermutete, er sei so zornig geworden, weil sie ihn ausnahmsweise erst am frühen Abend besucht habe.
    »Und warum?« fragte Paul und konnte nicht verhindern, daß es wie ein Vorwurf klang.
    Vormittags sei sie beim Frisör und hinterher im Supermarkt gewesen, heute sei schließlich Ostern. Aber das habe er durchaus gewußt, denn sie habe es am Vortag bereits mit ihm abgesprochen.
    Unter seinem Bett lag ein Taschentuch, das Paul mühselig mit dem Fuß herbeiangelte. Er mochte nicht auf die Rechtfertigungen seiner Mutter eingehen. Mit welcher Selbstverständlichkeit

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