Rabenbrüder
nasser Plüschtiere in den Keller. Paul schob das suspekte Abwehrgerät in das Versteck zurück.
Beim Abendessen sprach vorsichtshalber niemand über schmutzige Badewannen, Kuscheltiere oder Elektro-schocker. Achim hatte eingekauft und gekocht, und alle waren wieder einmal beeindruckt von seiner Fähigkeit, in relativ kurzer Zeit ein köstliches Essen auf den Tisch zu bringen.
»Ich bin der Meinung, Achim könnte ein erstklassiges Schlemmerrestaurant eröffnen«, sagte Paul, und die Mutter nickte zustimmend.
Achim hatte Annettes Teller auf den seinen gestellt und schnitt ihr die Kalbsleber in mundgerechte Stücke. Vielleicht werde er ja wirklich ein Lokal aufmachen, sagte er, man hätte ihm heute angeboten, >Die Wildgans< zu übernehmen.
Aber er habe doch schon einen Vertrag mit den Toyota-Leuten, wandte die Mutter etwas beunruhigt ein.
»Noch nicht unterschrieben«, sagte Achim, »aber mach dir keine Sorgen, Mama, deine Söhne sind keine kleinen Kinder mehr.«
Das wisse sie durchaus, sagte sie, und Sorgen habe sie sich um ihren prachtvollen Nachwuchs noch nie gemacht.
Über diese kühne Behauptung mußte Annette gickeln.
Nach dem Essen sah man gemeinsam einen Fernsehfilm, und der Mythos des Grafen von Monte Christo zog wie zu allen Zeiten das Publikum in seinen Bann. Kurz nach zehn verschwand zuerst Annette, dann die Mutter und schließlich auch Paul von der Bildfläche. Achim blieb als einziger im Wohnzimmer sitzen und vergnügte sich mit der Fernbedienung.
Zum Glück regnete es schon wieder, und Paul lag erfreut in seinem Bett und lauschte. Im Laufe der Jahre war der Efeu bis zur Dachkante gewachsen, und das Rauschen des Regens hörte sich noch behaglicher an als früher. Kindheitserinnerungen wurden wach, und über kurz oder lang dachte Paul wieder über seine Familie nach. Achim war zwar heute bei Annette und seiner Mutter in Mißkredit geraten, hatte aber seine Nachlässigkeit durch das gute Abendessen wieder wettgemacht. So war es immer, sein Bruder konnte sich alles erlauben, für Mama war er schon immer das Goldkind gewesen; und nun erwies er sich auch noch als hochgelobter Küchenprofi. Leider konnte Paul auf diesem Gebiet erst recht nicht mit Achim konkurrieren.
Annette grauste sich vor der Trauerfeier und sehnte sich nach dem Wochenende im eigenen Haus. Als sie sich in aller Frühe einen Becher Tee ans Bett holen wollte, traf sie ihre turnende Schwiegermutter. Beim Versuch, sich diskret an ihr vorbeizuschlängeln, kam sie diesmal nicht um eine Belehrung herum. »Alle Bewegungen sind der Natur abgeschaut«, sagte Pauls Mutter und demonstrierte, wie man rückwärts geht und dabei den Affen abwehrt. Annette mußte sich zeigen lassen, wie man den Tiger schlägt, den Spatzenschwanz fängt und dem Wildpferd die Mähne teilt. Zum Glück wurden sie von Frau Ziesel, die zweimal in der Woche zum Putzen kam, mitten in der Tai-Chi-Vorführung unterbrochen.
Auch Paul zählte die Stunden bis zur Abreise, dachte häufig an Olga und versuchte erneut, sie telefonisch zu erreichen. Diesmal war sie am Apparat.
»Wie war’s in Granada?« fragte Paul und gab sich Mühe, seiner Stimme weder einen süßlich-anbiedernden noch einen gekränkten Ton zu geben.
»Wie soll es schon gewesen sein?« fragte sie zurück. »Sonnig natürlich. Warum hat mir kein Mensch verraten, daß Markus seiner Putzfrau ein Kind gemacht hat?«
»Olga«, sagte Paul beschwörend, »ich habe im Moment andere Sorgen. Mein Vater ist gestorben und wird morgen beerdigt.«
Nun schnaufte sie hörbar auf und beteuerte pflichtschuldig, daß es ihr leid täte. Wo Paul sich im Augenblick aufhalte?
Sie verabredeten sich für das Wochenende. Paul würde vorgeben, daß er nach der Zwangspause dringende Arbeiten im Büro erledigen müsse. Er freute sich schon jetzt darauf, bei Olga erst zu schlemmen und anschließend eine aufgeweckte Siesta zu halten. Es war im Grunde kein schlechtes Arrangement, Tisch und Bett mit zwei Frauen zu teilen: bei der Geliebten Lust und Abenteuer, bei der Ehefrau Ordnung und Ruhe.
Bereits am heutigen Donnerstag wurden Verwandte erwartet. Paul kannte die Tante nur flüchtig, die Kusine gar nicht. »Wie alt ist diese Saskia eigentlich? Und was macht sie so?« fragte er beim Frühstück, denn er konnte sich Familiengeschichten nie merken.
Saskia sei etwas jünger als Achim und spiele im Rundfunkorchester die Querflöte, sagte die Mutter.
»Verheiratet? Kinder?« fragte Annette.
Geschieden, jetzt lebe sie mit einem Partner
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