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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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brauchen, wenn du mal nachts allein unterwegs bist«, behauptete Paul. »Ein Angreifer wird im Nahbereich, aber auch aus einer Entfernung bis zu 2 Metern, außer Gefecht gesetzt. Stell dir mal vor: 200.000 Volt aus den vergoldeten Elektroden durchschlagen selbst starke Kleidungsstücke, sogar Leder ...«
    »Bist du vun eme Aff gebisse!« rief Annette und fiel vor Empörung ganz kurz in den heimatlichen Dialekt. »Hast du etwa im Ernst geglaubt, ich würde mir mit so einem ekelhaften Objekt die Handtasche ausbeulen?« Mit diesen Worten verließ sie das Badezimmer und flüchtete wieder schmollend ins Bett. Die spinnen ja alle, urteilte sie und mußte doch vor sich selbst zugeben, daß ein neutraler Beobachter die ersoffenen Plüschtiere erst recht für die Tat einer Wahnsinnigen halten würde.
    Der bedrohliche Gegenstand unter der Kleenexpackung beschäftigte sie noch lange. Offensichtlich hatte ihn jemand dort versteckt, allerdings so, daß er schnell wieder hervorgezogen werden konnte. Ihrem Schwiegervater traute sie eher den Besitz einer alten Duellpistole als einer vergleichsweise modernen Waffe zu. Und Pauls Mutter?
    Annette hatte einmal gefragt, ob Tai Chi ein Kampfsport sei.
    Ursprünglich ja, hatte sie erfahren, aber heutzutage diene es eher der Meditation, der sanften Aktivierung aller Muskeln und der Zirkulation der Körperenergie.
    Paßte es zu einer Frau, die gern in einer stillen Ecke des Gartens ihre langsamen, harmonischen Übungen ausführte, daß sie sich einen Elektroschocker zulegte?
    Das Murmellied
    Schon immer hatte es Paul geliebt, im warmen Bett zu liegen und den fallenden Tropfen zu lauschen. Mit dreizehn Jahren hatte er einmal an einem verregneten Zeltlager teilgenommen, und während die anderen Jungen über das schlechte Wetter klagten, fühlte er sich geborgen und glücklich. Er hatte ein paar spannende Bücher im Rucksack, lag auf seiner Luftmatratze und las von früh bis spät die Expeditionsberichte norwegischer Polarforscher. Ein andermal hatte er in der Kajüte eines Binnenschiffs übernachten dürfen und konnte stundenlang das leise Schwappen des Neckars hören. Seitdem sehnte er sich nach einem eigenen Boot mit teakverkleideten Kojen.
    In der Kindheit hatte er sich gelegentlich einsam gefühlt, aber früh gelernt, solche Defizite auszugleichen, ja das Alleinsein zu zelebrieren. Die schönsten Stunden in seiner dämmrigen Mansarde waren stürmische Herbsttage. Wenn es draußen goß und pladderte, ließ er den Inhalt seiner Urinflasche unauffällig über die nassen Ziegel in die Dachtraufe rieseln und stieg nur zu den Mahlzeiten widerwillig in die Unterwelt hinab. Für Notzeiten hatte er einen kleinen Vorrat Studentenfutter gehortet.
    Seine Leidenschaft für rauschenden Regen war eng mit der waagerechten Haltung verknüpft, denn Paul haßte es,
    mit einem Schirm oder gar Gummistiefeln herumzulaufen. Er konnte den forschen Spruch nicht ausstehen, es gebe kein schlechtes Wetter, sondern nur die falsche Kleidung. Manchmal, wenn er nachts aufwachte und beglückt die Tropfen zerplatzen hörte, malte er sich aus, er würde friedvoll unter der Erde liegen. Ganz allmählich löste sich sein Körper auf, um schließlich im ewigen Kreislauf des Wassers über Dächer, Straßen, Felder und Wälder zu strömen.
    Die Feuerbestattung ist Unfug, dachte er, Verbrennen fördert nur den Anstieg der Ozonwerte, viel besser wäre es, alle Menschen hätten das Recht auf ein Seemannsgrab oder eine Ruhestätte ohne den üblichen Eichensarg. Jeder tote Körper sollte anderen Organismen zugeführt werden, um unseren Planeten mit seinen vielfältigen Lebewesen im Gleichgewicht zu halten. Das Thema war aktuell: Da kein Familiengrab vorhanden war, favorisierte die Mutter eine Feuerbestattung. Achim hatte zugestimmt, aber Paul war froh, daß er sie am Ende doch zur traditionellen Beerdigung überredet hatte.
    Sein Vater mochte nun bald die Radieschen von unten besehen oder sich als unsichtbarer Gast zu seiner Familie gesellen; für das übliche Geschwätz und die frommen Lieder in der Friedhofskapelle brauchte er sich nicht mehr zu interessieren. Während seine Seele noch wie ein Lichtstrahl in den hohen Bäumen schwebte, ruhte sein Körper in der dunklen Grube und schlummerte seinen Ursprüngen entgegen. And his soul goes marching on, pfiff Paul.
    Wenn er sich solchen Gedanken hingab, fühlte er sich gelegentlich seinem Namensvetter Jean Paul ganz nahe, nur konnte er sich leider nicht wie ein Dichter ausdrücken. Von

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