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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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man eine völlig perverse Phantasie habe. Sie stand auf, flüchtete in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und weinte.
    Wie zwei Brautpaare würden sie am Grabe stehen, hatte Paul gespottet. Vor dem Sarg, dessen Insasse nicht mehr aufbegehren konnte, sah Annette ein inzestuöses Quartett vorbeidefilieren: sie selbst mit Achim - ihrem Schwager und Lover - und Paul am Arm seiner weißgewandeten Mutter. Ich haue ab, beschloß Annette, in diesem Haus bleibe ich keine Minute länger. In meinem Beruf bin ich eine erfolgreiche und geachtete Frau, hier werde ich hysterisch und völlig versaut.
    Irgendwann gingen ihr die Tränen aus, und sie schlich in Helens salle de bain. Seit Weihnachten hatte das Badezimmer der Eltern nicht mehr das übliche Schloß mit einem herausnehmbaren Schlüssel, sondern eine drehbare Schließe, die notfalls mit einem Schraubenzieher oder einer Münze von außen geöffnet werden konnte.
    Nach einem Schwächeanfall des Vaters hatten beide Söhne den Eltern geraten, das Bad nicht mehr abzusperren, aber sie waren auf taube Ohren gestoßen. Da die Toilette nicht vom Badezimmer abgetrennt war, empfanden sie eine solche Regelung als unzumutbar. Man einigte sich schließlich auf ein neues System, das beiden das Gefühl gab, nicht gestört zu werden. Natürlich war es Pauls Idee gewesen, denn er galt als erfinderischer Mensch; für die Umsetzung hatte man jedoch Achim verpflichtet. Der eine kassiert die Lorbeeren, der andere muß die eigentliche Arbeit übernehmen, dachte Annette, genau wie bei uns im Büro. Im Augenblick fand sie allerdings wenig Gefallen an Pauls Kreativität, sondern hatte das Bedürfnis, sich wenigstens im Badezimmer mit einem ganz normalen Schlüssel zu verbarrikadieren.
    Leider sah es hier nicht so penibel sauber aus wie sonst: Kleidungsstücke lagen verstreut am Boden, die Wanne hatte einen schmierigen Rand aus Seife und dunklen Bartstoppeln, das Wasser war nicht abgelaufen. Als Schmutzfink kam jedoch diesmal nicht Paul, sondern offenbar nur der adrette Achim in Frage. Indizien wie eine grüne Unterhose und eine Flasche Honigshampoo überführten den Täter. Annette haßte jegliches Chaos. Hier mochte sie sich noch nicht einmal die Hände waschen.
    Die Tür zu Achims Zimmer stand weit auf. Alles sah nach einem überstürzten Aufbruch aus, denn auch hier lagen Wäsche und Schuhe herum. Selbst die Stofftiere waren vom Blumenständer gepurzelt, als wäre jemand in Eile dagegen gerempelt. Ihre Wut auf die ganze Welt ließ Annette an einer Giraffe aus, die sie in hohem Bogen zur Tür hinausschleuderte. Das platschende Geräusch ließ befürchten, daß das steife Tier bis ins Bad geflogen und in der Wanne gelandet war. Mit sadistischer Freude schnappte sich Annette nach und nach die restliche Menagerie und versenkte Afrikas gesamte Fauna im Wasserloch. Als sie ihr Werk vollendet hatte, blieb sie eine Weile in andächtiger Fassungslosigkeit davor stehen.
    »Anscheinend stößt man nicht folgenlos mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe«, sagte Paul, den sie wegen ihres nervösen Lachanfalls nicht hatte kommen hören.
    Annette drehte sich um und schluchzte übergangslos gegen die peinliche Situation an.
    Er nahm sie etwas lasch in die Arme. »Du hättest besser noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben sollen«, sagte er und strich ihr über den Rücken. Fasziniert beobachtete aber auch er, wie Achims Lieblinge im Schmutzwasser trieben und sich langsam vollsogen.
    »Hast du Mama gesehen?« fragte Paul. »Ich suche Papas Manikürbesteck. Das Futteral ist aus Kroko, wäre doch schade, wenn es ebenfalls beim Roten Kreuz landet.« Er öffnete den eingebauten Badezimmerschrank und begann zu kramen.
    Auch Annette tastete zwischen Handtüchern und Toilettenpapier-Vorräten herum, bis sie auf einen festen Gegenstand stieß und triumphierend rief: »Ich hab’ es!« An einer Handschlaufe zog sie allerdings kein elegantes Etui, sondern ein seltsames schwarzes Ding heraus.
    »Merkwürdig«, meinte Paul.
    »Warum? Wieso? Was ist das überhaupt?« fragte Annette und beäugte mißtrauisch das unheimliche Gerät, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Hirschkäfer aufwies. Hatte es etwas mit abartigem Sex zu tun?
    Das sei ein Elektroschocker, belehrte Paul und wurde nachdenklich, er besäße auch einen, den er irgendwann bei einem Versandhaus bestellt habe.
    Wofür er denn so etwas brauche? fragte Annette mißbilligend.
    »Eigentlich war er für dich gedacht. Du könntest eine Verteidigungswaffe gut

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