Rabenbrüder
zusammen, der ebenfalls Musiker sei.
Nicht nur für die Verwandtschaft, sondern auch für Freunde hatte die Mutter Hotelzimmer reservieren lassen. Insgesamt würde die Trauerfeier aber im kleinen Rahmen stattfinden.
»Der Kaffee wird kalt«, sagte die Hausfrau vorwurfsvoll. »Jean Paul, schau doch mal, wo Achim bleibt.«
Doch Paul fand nur das unberührte Bett seines Bruders vor.
Annette hätte zu gern Näheres erfahren und fragte ihre Schwiegermutter möglichst beiläufig, was denn von Achims Freundin zu halten sei.
Die Reaktion sprach nicht gerade für Sympathie.
»Achim hat uns schon so viele Mädels vorgestellt, daß man die Übersicht verliert«, sagte die Mutter, »aber diese Carmen ist eine ziemlich unver...«
Annette konnte einen Laut der Belustigung nicht unterdrücken und wurde mit mißbilligendem Räuspern gestraft, nahm es aber nicht übel. Es kam ihr eigentlich gelegen, daß ihr Schwager ein Hallodri war, so hatte ihre kurze Affäre kaum Gewicht und konnte jederzeit zu den Akten gelegt werden. Einmal war keinmal.
Es fiel ihr auf, daß Pauls Mutter nicht bei der Sache war, sondern über etwas anderes nachdachte. »Kinder«, sagte sie kurz entschlossen, »ich werde jetzt in die Stadt fahren und mir ein schwarzes Kostüm kaufen.«
Paul und Annette tauschten einen erstaunten Blick.
»Nicht wegen der Leute, sondern um Papas Schwester nicht zu schockieren«, erklärte die Mutter. »Tante Lilo ist eine durch und durch bourgeoise alte Schachtel. Annett-chen, magst du vielleicht mitkommen?«
Paul wurde nicht gefragt und blieb allein im Haus.
Er nutzte die Gelegenheit, um seiner Mutter einen Teil der verhaßten Schreibarbeit abzunehmen. Leider hatte Achim den Laptop mitgenommen, aber ein Drucker war sowieso nicht im Haus. Auf einer uralten Maschine tippte Paul mühselig die erforderlichen Briefe an Krankenkasse und Rentenstelle, Bank, Versicherung und Finanzamt und legte jeweils einen beglaubigten Totenschein dazu. Jetzt brauchte die Mutter nur noch zu unterzeichnen.
Als er im Schreibtisch seines Vaters nach Umschlägen suchte, kam sein Bruder herein.
»Immer noch kein Testament gefunden?« fragte Achim erwartungsvoll.
Soweit ihm bekannt sei, habe der Vater keine letztwillige Verfügung hinterlassen, meinte Paul, und in solchen Fällen trete die gesetzliche Erbfolge in Kraft: »Ehepartner und Kinder bilden eine Erbengemeinschaft. Mama kriegt die Hälfte, wir teilen uns den Rest. Aber da Papas Vermögen hauptsächlich in unserem Elternhaus steckt, brauchst du dir keine Hoffnung auf Bargeld zu machen.«
Diese Auskunft schien Achim nicht zu gefallen. Für eine
Person sei das Haus doch viel zu groß, sagte er, die Mutter werde sicherlich in eine kleinere Wohnung ziehen wollen. Spaßeshalber habe er mal einen Makler nach dem Verkehrswert gefragt .
Paul unterbrach ihn scharf. Sein Bruder wolle doch nicht etwa die eigene Mutter vor die Tür setzen! Bisher habe sie mit keiner Silbe geäußert, daß sie nicht bis ans Ende ihrer Tage in ihrem Haus leben wolle. Wenn Paul einmal ins Moralisieren kam, konnte er nicht so schnell wieder aufhören. Besonders geldgierige Erben - wie zum Beispiel sein Bruder - würden gelegentlich verlangen, daß die Immobilie innerhalb von drei Monaten versteigert werde. Allein der Gedanke sei widerlich!
Er habe es nicht so gemeint, beteuerte Achim kleinlaut, natürlich solle die Mutter hier wohnen bleiben, das sei doch selbstverständlich. Aber andererseits sei sie vor kurzem durch den Verkauf einer Villa zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen, es wäre doch die einfachste Lösung, wenn sie ihre Söhne auszahle.
»Was willst du eigentlich? Du hast doch bereits abkassiert«, knurrte Paul gereizt. »Mama hat dir einen Haufen Kohle überwiesen, und ich bin wie immer leer ausgegangen. Du kannst den Hals wohl nicht voll genug kriegen?«
Im Grunde hatte Paul schon befürchtet, daß es über kurz oder lang zu Auseinandersetzungen kommen würde, und hatte schärfer reagiert als beabsichtigt. Wenn er es allerdings richtig bedachte, war es eigentlich gar nicht so abwegig, was Achim über die Auszahlung ihres Erbteils gesagt hatte. Vor seinem geistigen Auge tauchte eine kleine Yacht auf. Die gesamte Mannschaft bestand aus Sym-pathisanten, die ihre Pflichten aus Leidenschaft und nicht gegen Bezahlung erfüllten. In seiner Kajüte befand sich ein Wasserbett, und Paul konnte ein paar Jahre verträumen und vertrödeln, von einer griechischen Insel zur anderen segeln und dort die
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