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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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wem waren eigentlich die Verse, die ihm seine Mutter abends vorgesprochen hatte, als er noch nicht einmal zur Schule ging und alles begierig aufnahm? Als Kleinkind verlangte Paul oft nach dem »Murmellied«, denn er dachte dabei weniger an murmelnde Bächlein als an seine gläsernen, bunten Klicker.
    Eilig lief er nach unten und rief wie als Knabe: »Mama, Mama!«
    Sie hatte gerade die Küche aufgeräumt, band ihre gelbe Schürze ab und fragte belustigt, was es gebe.
    Als sie seine Bitte erfüllte, spitzte Paul aufmerksam die Ohren. Sie hatte immer noch eine wunderschöne Stimme.
    Singt ein Lied so süß gelinde
    Wie die Quellen auf den Kieseln,
    Wie die Bienen um die Linde
    Summen, murmeln, flüstern, rieseln.
    Natürlich kannte sie auch den Namen des romantischen Poeten. »Wie schön, daß du mich an das Wiegenlied von Clemens Brentano erinnerst«, sagte sie. »Ursprünglich sollte ja dein Bruder nach ihm heißen, aber Papa gefiel dieser Vorname nicht. Daher entschieden wir uns für Achim von Arnim als Namensgeber. Unter uns gesagt: Mir wäre eine Bettina lieber gewesen.«
    »Wäre es nicht eine originelle Idee, wenn du diese Verse bei der Beerdigung aufsagen würdest?« schlug Paul vor.
    »Eine Rede von einem wildfremden Pfarrer ist doch völlig unpersönlich.«
    Befremdet sah sie ihren Sohn an. »Ich wüßte zwar noch viele schöne Wiegenlieder«, sagte sie, »aber es käme mir kitschig und unpassend vor, wenn ich am Grab meines Mannes Gedichte rezitierte. Nein, Jean Paul, das lassen wir lieber.«
    Sie schwiegen beide. Schließlich wechselte die Mutter den Gesichtsausdruck und das Thema: »Komm mal mit, ich will dir etwas zeigen, bevor ich dort Ordnung schaffe. Ich mach’ mir nämlich Sorgen um deinen Bruder.«
    »Das tust du doch, seit er auf der Welt ist«, sagte Paul etwas bitter und folgte ihr ins Badezimmer.
    »Sieh dir das mal an!« rief sie entrüstet, »das kann doch nicht normal sein! Der Junge ist 35 und badet mit seinen Spielsachen!«
    Paul grinste ein wenig und meinte: »Da muß ich Achim ausnahmsweise verteidigen, dieses entzückende Arrangement geht auf Annettes Konto.«
    »Nun hör aber auf, du brauchst ihn gar nicht erst in Schutz zu nehmen. Ich weiß genau, daß er es war!« brauste sie auf. Dann erklärte sie: Als sie Achim ans Telefon rief, kam er tropfend und nur mit einem Frotteetuch um die Hüften aus dem Bad. Es mußte wohl etwas Wichtiges gewesen sein, denn er sei Hals über Kopf auf und davon gestürmt. Aber das sei keine Entschuldigung.
    Paul fragte, wer angerufen habe, aber die Mutter konnte sich nur an eine Frauenstimme erinnern. Sie sei Achim noch nachgelaufen, weil seine Brieftasche auf dem Boden lag.
    Als Vertreter der Gerechtigkeit fühlte sich Paul verpflichtet, ein Plädoyer für seinen Bruder zu halten: Achim hätte zwar höchstpersönlich die Wanne verdreckt, aber wohl ohne seinen Zoo gebadet. Die empfindliche Annette habe sich dermaßen über das schmutzige Bad geärgert, daß sie ein bißchen ausgeflippt sei und die Tiere ins Wasser gefeuert habe. »Ja, schau mich nicht so entsetzt an, sie hatte schließlich eine schwere Gehirnerschütterung!«
    Die Mutter fischte die unappetitlichen Klumpen aus der Brühe, warf sie ins Waschbecken und fragte sich eher selbst: »Ob man sie in den Trockner stecken kann?«
    »Stopf sie in die Mülltonne, oder häng sie auf die Wäscheleine«, empfahl Paul. »Du kannst Achim ja sagen, du hättest sein angestaubtes Getier in der Maschine gewaschen. Weißt du übrigens, wo Papas Nageletui ist?«
    »Müßte im Schrank liegen«, sagte sie und wrang einem Elefanten die Ohren aus.
    »Dort habe ich schon gesucht und dabei dieses UFO gefunden!« Paul schwenkte den Elektroschocker vor ihr herum.
    Ohne richtig hinzusehen, fragte ihn seine Mutter: »Was soll’n das sein?« und fuhr mit ihrer Tätigkeit fort.
    »Mama, das ist ein sehr spezielles Gerät«, sagte Paul behutsam. Sie richtete sich ungeduldig auf: »So?«
    Ob dieser Gegenstand dem Vater gehört habe? forschte Paul, aber sie zuckte nur ratlos mit den Schultern und meinte leicht verlegen, das Ding sehe ziemlich elektrisch aus, ob es vielleicht etwas mit Papas Videosammlung zu tun habe?
    Paul mußte lächeln, als ihr schließlich die Erleuchtung kam: Bestimmt habe Achim das Instrument zum Rasieren benützt.
    »Mit Sicherheit nicht«, sagte Paul. »Es ist nämlich eine Verteidigungswaffe.«
    Seine Mutter schien aufzuatmen, daß keine Videos im Spiel waren, und begab sich mit einem Waschkorb voll

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