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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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vielleicht gar nichts ahne. »Einmal wollte er sogar ...«
    »Was?« fragte Paul und steuerte schleunigst eine frei werdende Parklücke an.
    Seine Mutter hatte den Faden verloren. »Wie kann man sich nur so eine unsinnige Geschichte ausdenken! Das stimmt doch alles vorn und hinten nicht!« rief sie erregt.
    »Du hättest mich doch vorher angerufen, wenn ihr eine Fahrt nach Mainz geplant hättet. Und bestimmt hättest du Papa besucht, wenn du tatsächlich hier gewesen sein solltest!«
    »Bestimmt«, murmelte Paul undeutlich.
    »Mein Gott, Jean Paul, als ob man nicht schon genug Sorgen hätte ...«
    »Was denn noch?« fragte er.
    Seine Mutter stieg aus. Auf dem Weg zum Bahnsteig murmelte sie: »Es gibt Dinge, die sind mir einfach zu peinlich.«
    Was mochte sie mit diesen Worten meinen? Es war ein Risiko gewesen, der Mutter den Krankenhausbesuch beim Vater zu verschweigen, aber ihr schlechtes Gewissen hatte Paul und Achim davon abgehalten. Erst kürzlich hatten sie erfahren, daß die Stationsärztin am Ostersonntag ihren Urlaub angetreten hatte, ohne zuvor mit der Mutter zu reden und dabei womöglich das Gespräch mit ihren Söhnen zu erwähnen. Langsam begriff Paul, daß seine Mama immer noch fest daran glauben mußte, den folgenschweren Erregungszustand des Kranken höchstpersönlich provoziert zu haben.
    Auf der kurzen Fahrt vom Bahnhof nach Mainz-Bretzenheim interessierte sich Saskia für die Stadtgeschichte. Paul konnte glänzen und erzählte, daß bereits die Römer ihre Zelte vor den Toren von Mogontiacum aufgestellt hatten, aber erst die Franken dem Stadtteil seinen Namen gaben.
    »Unser Bretzenheim war zwar ein richtiges Bauerndorf, aber das erste Gebiet in ganz Rheinhessen, wo man Reben anbaute«, sagte er stolz. »Nachher könnt ihr unseren Hauswein probieren. Schade, daß ihr nicht am Fastnachtssonntag hier seid, wenn sich der Zug durch die engen Gassen quält, oder gar im Juni zu unserem Brezelfest ...«
    »Junge«, sagte seine Kusine trocken, »das mag ja alles rattenscharf sein, aber dies hier ist keine Sause.«
    Paul schwieg beschämt. Wie immer bewahrte seine Mutter Haltung und setzte, ohne auf das Intermezzo einzugehen, den belehrenden Vortrag ihres Sohnes fort. »1946 wurde das Land Rheinland-Pfalz gebildet, und Mainz wurde Hauptstadt. Als die Universität wieder eröffnet wurde, entstand das Neubaugebiet, in dem wir heute wohnen. Voilà! Herzlich willkommen trotz des traurigen Anlasses!«
    Die Tante hatte immer wieder beifällig genickt, denn sie war selbst hier aufgewachsen. Bedauernd stellte sie fest: »Schad, daß ich so lang nit mehr bei eich war; als Borzel hab’ ich ganz in de Näh’ Schelleklobbe gemacht un die Schmiss gekrieht.«
    Erst als die Gäste bereits am Tisch saßen und den steifen Kaffee aus gesundheitlichen Gründen ablehnten, erschien Achim. Er trug eine neue Schirmmütze, von Tante Lilo Batschkabb genannt, hatte Krapfen und gebutterte Laugenbrezeln mitgebracht und machte sich sofort nützlich. Als erstes wurde für die Kusine eine Flasche Sekt geöffnet, dann bekam Tante Lilo ihren Muckefuck.
    »Hol bitte noch e Dibbche mit Milch! Die Krebbel sin fabelhaft«, lobte die Tante.
    Die Mutter beobachtete angespannt ihren emsigen jüngeren Sohn.
    Sie macht sich bestimmt ihre Gedanken, dachte Annette, aber eher wird sie mich für total übergeschnappt halten als einen ihrer Lieblinge. Es wird höchste Zeit, daß ich nach Hause komme, hier drehe ich tatsächlich noch durch.
    Die Kusine war eine unscheinbare, aber witzige Person, Paul mochte sie auf den ersten Blick. Sie war eine Spur zu dick, trug einen schwarzen Pullover und Jeans, hatte die dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und knabberte gelegentlich unauffällig an ihren Fingernägeln herum.
    Als Tante Lilo ein neueres Foto ihres verstorbenen Bruders verlangte, schleppte die Mutter mehrere dicke Alben herbei. Über kurz oder lang waren alle mit Anschauen und Kommentieren beschäftigt. Nur Annette langweilte sich, denn erst kürzlich hatte man ihr den ganzen Packen vorgelegt. Unbemerkt stand sie auf und nahm Pauls Sakko vom Sofa, um ihn in der Garderobe auf einen Bügel zu hängen. Dort zog sie sein Handy aus der Jackentasche, drückte rasch die Wiederholungstaste und lauschte aufmerksam. Als sich Olga meldete, legte sie auf. Die Hoffnung, daß Paul anläßlich der Beerdigung auch seine Affäre zu Grabe getragen hätte, mußte Annette hiermit fallenlassen.
    Saskias Frage »Darf man bei euch rauchen?« nahm

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