Rabenbrüder
ihr Schwager, den sie bis jetzt für einen Adonis gehalten hatte, in ein solches
Fabelwesen zu verwandeln. In Panik griff sie nach dem erstbesten Gegenstand, um dem surrealen Monster auf die Schnauze zu hauen. Leider erwischte sie nur die Zeitung von gestern.
Hiob
Annette traute sich nicht, ihren Schwager durch einen schrillen Schrei zu verjagen. Da sie wußte, daß Paul fortgefahren war, käme seine Mutter angerannt und würde ihre Schwiegertochter für vollends übergeschnappt halten.
In dieser prekären Situation leistete Helen jedoch unbeabsichtigten Beistand.
Als Achim den heiseren Ruf der mütterlichen Stimme hörte, verließ er auf der Stelle das Gästezimmer. Bald darauf fuhr er mit seiner Mama los, um sich mit Paul samt Tante und Kusine im Restaurant zu treffen.
Einen weiteren Abend mit der vorwurfsvollen Schwiegermutter, dem untreuen Mann, dem aufdringlichen Schwager und der hausbackenen Tante hätte Annette kaum ausgehalten. Außerdem ging es ihr auf die Nerven, wie ungeniert Paul seiner Kusine schöne Augen machte. Sollten die Blutsverwandten ruhig unter sich bleiben.
Beim Gedanken an das verpaßte italienische Essen wurde sie allerdings etwas hungrig und beschloß, sich ein Brot zu schmieren. Achims Zimmertür stand zwar nicht offen, aber Annette konnte es sich trotzdem nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen. Diesmal wirkte der Raum leer und perfekt aufgeräumt; die fehlenden Plüschtiere trockneten wohl noch auf der Wäscheleine. Unter
dem Tisch erspähte die ordnungsliebende Annette jedoch einen abgerissenen Papierschnipsel.
Neugierig hob sie den Zettel auf und las. Mit Kugelschreiber hatte jemand in Blockbuchstaben an den Rand geschrieben: hiob
Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt! Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Dann läge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruhe.
Nachdenklich stopfte sie den Zeitungsfetzen in die Hosentasche. Welche Bedeutung hatte die alttestamentarische Klage für Achim? Steckte er in einer Krise, obwohl er keinen deprimierten Eindruck machte? Hatte sie ihn bisher falsch beurteilt? Das schwermütige Zitat paßte nicht zu einem Sunny Boy, eher hätte sich Paul davon angesprochen gefühlt. Selbst die nüchterne Annette blieb nicht unberührt.
Mit der letzten Brezel vom Kaffeetisch setzte sie sich schließlich vor den Fernseher und fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen etwas entspannter. Morgen um diese Zeit war sie längst wieder zu Hause, und in der Waschmaschine drehte sich bereits die erste Portion Kochwäsche.
Das Restaurant >La Cucina< war überheizt und mit heiter gestimmten Menschen voll besetzt; es duftete nach Olivenöl, Knoblauch und Oregano. Der italienische Kellner begrüßte Achim per Handschlag und täuschte auf charmante Art vor, die kleine Gruppe auf Grund dieser Bekanntschaft besonders zuvorkommend zu bedienen. Ausnahmsweise hatte Paul kaum Appetit, dafür aber ein starkes Bedürfnis nach Rückzug. Er beneidete Annette, die sich zu Hause sicherlich auf dem Sofa breitmachte. Bei dem herrschenden Geräuschpegel dröhnten ihm die Ohren, und er hatte Mühe, seine unentwegt schwätzende Tante zu verstehen. Konnte es sein, daß sich ein Hörsturz ankündigte?
Tante Lilo hatte wohl selbst erkannt, daß sie genug getrunken hatte. »Ei, bin ich don schun vonem Verdelche Domherr oogeduddelt? Paulche, schenkste mer noch e Bizzelwasser ei fer de Dorscht?« Sie lachte laut und fragte fröhlich: »Un wann wolle mer morsche auf de Kerchhof?«
Die Beerdigung sei um elf, sagte Achim und sah dabei auf die Uhr, als ob sie in dieser Minute aufbrechen müßten.
Seine Mutter fügte hinzu: »Im Anschluß an die Trauerfeier treffen wir uns im >Abbelkrotze<. Wir haben dort ein Hinterzimmer reserviert, wo notfalls dreißig Leute Platz haben. Bevor wir auseinandergehen, soll es für Angehörige und Freunde einen gemeinsamen Imbiß geben.«
Paul saß zwischen Kusine und Tante und wunderte sich, mit welcher Gier sich beide über das Perlhuhn alla cacciatora hermachten. Er hatte nur ein Kürbissüppchen bestellt. Fast dachte er mit Ekel an die fetten Leckerbissen, mit denen Olga demnächst wieder auftrumpfen würde. Erst als ihn Saskia anstieß, bemerkte er, daß Achim einen Vorschlag machen wollte.
»Hey, Bruderherz«, sagte er, »wenn ihr möchtet, kann ich euch morgen mitnehmen. Ich fahre nämlich sowieso
Weitere Kostenlose Bücher