Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
Paul zum Anlaß, seine Kusine auf die Terrasse zu lotsen.
    »Warum kennen wir uns eigentlich nicht?« wollte sie wissen und ließ sich Feuer für ihre Ultralight geben. Paul erinnerte sich, wie man ihm vor über dreißig Jahren ein Baby unter die Nase gehalten hatte.
    »Später habe ich dich nie mehr wiedergesehen«, sagte er bedauernd. »Soviel ich weiß, konnten sich unsere Väter nicht ausstehen. Mama behauptet übrigens, du lebst mit einem Musiker zusammen?«
    »Schnee von gestern«, sagte sie, »der Typ war mir zu lahm. Rate mal, was mein Neuer für ein Hobby hat?«
    Verblüfft erfuhr Paul, daß ihr Freund Westernreiter war. Das sei ein noch junger Sport in Deutschland, erzählte sie, als Zuschauer staune man über spektakuläre Manöver. Beim Reining werde nämlich in hohem Tempo geritten, der Sand spritze, wenn sie abrupt bremsten. Dabei habe der Reiter nur eine Hand am Zügel und kontrolliere sein Pferd mit knappen Anweisungen. Paul dürfe es sich nicht entgehen lassen, wenn demnächst in Mannheim eine große Show stattfinde.
    »Echt? Machst du etwa auch solche verrückten Sachen?« fragte Paul beeindruckt.
    »Liebster Cousin, ich bin Flötistin, das wäre ein viel zu hohes Risiko. Im Grunde darf ich noch nicht einmal rauchen. Aber mein Freund bringt mir gerade das Segeln bei.«
    Einen Moment lang schloß Paul die Augen, weil ihm von der frischen Luft leicht benommen war. Vor ihm tat sich die große Freiheit auf: das blaue Meer. Seine nette Kusine und ihr wilder Partner mühten sich, das Schiff in einen Yachthafen zu steuern, während Paul im Liegestuhl faulenzte, den Sonnenuntergang bewunderte und einen Ouzo kippte. Viel Geld müßte man haben, dachte er, sagte aber: »Mir wird kalt, laß uns wieder hineingehen.«
    Drinnen in der warmen Stube überwältigte ihn das unangenehme Gefühl, kurz vor dem Ausbruch einer schweren Krankheit zu stehen. Übelkeit, Augenflimmern, Gelenkschmerzen und ekelhafte Kopfschmerzen waren eindeutige Vorboten. Er hätte besser auf die sechs Krapfen verzichten sollen.
    Anscheinend besprachen die anderen gerade, wo man heute abend essen gehen sollte.
    Der Vater hätte sicherlich >Die Wildgans< empfohlen, sagte Paul und beobachtete seine Mutter mit glasigem Blick.
    »Was für eine abscheuliche Idee!« rief sie. »Der Inhaber ist gerade ermordet worden, und wir sollen dort ...«
    Achim unterbrach sie: »>Die Wildgans< scheidet aus, die bleibt bis auf weiteres geschlossen. Ich lasse einen Tisch in der >Cucina< reservieren.«
    Schließlich löste sich die Runde auf. Bevor man ins Restaurant aufbrach, wollten die Verwandten im Hotel einchecken. Paul wurde für den Fahrdienst eingeteilt und nahm es aus purer Schwäche widerspruchslos hin. Seine Mutter wollte sich noch ein wenig hinlegen. Annette saß im Jogginganzug auf dem Bett und blätterte in der Zeitung von gestern. Ob ihre sportliche Schwiegermutter eine heimliche Schwäche für Segelschiffe hatte, fragte sie sich verwundert. Eine kleine, rot markierte Anzeige war ihr aufgefallen: Skipperteam sucht Mitfahrer für Mittelmeertörn. Keine Segelkenntnisse erforderlich.
    Fast hatte sie es geahnt, daß es Achim war, der schließlich an ihre Tür pochte und höflich Bescheid sagte, daß man in einer halben Stunde essen gehe.
    Etwas einsilbig gab Annette zu verstehen, sie habe keine Lust.
    »Willst du verhungern, Kleines?« fragte er.
    »Bei dir dreht sich alles nur ums Fressen«, sagte sie ruppig. »Kapierst du überhaupt, daß du mich mit deinen Lügengeschichten ganz schön reingeritten hast?«
    Als Achim erfuhr, wie tief Annette seine Mutter gekränkt hatte, machte er einen reichlich verunsicherten Eindruck. Eine Weile lang stand er abgewendet am Fenster und schaute hinaus.
    Als er wieder an ihr Bett trat, sahen sich beide wortlos und vorwurfsvoll an, bis Achim aufs Essen zurückkam.
    »In der >Cucina< wird es dir bestimmt schmecken, aber du müßtest dich auf alle Fälle noch umziehen!« Dabei drückte er sie aufs Kopfkissen, küßte sie auf den Hals und wollte ihre Hose herunterziehen.
    Er ist wahnsinnig, dachte Annette, seine Mutter kann jederzeit hereinkommen! Allein bei dieser Vorstellung wurde ihr schwarz vor den Augen.
    Es war lange her, daß sie als Schülerin an einer Besichtigung des Freiburger Münsters teilgenommen hatte. Die dämonischen Wasserspeier mit Hundekopf, Flügeln, Schuppenschwanz, hervorquellenden Augen und aufgerissenen Mündern hatten Annette bereits damals bis in die Träume verfolgt. Plötzlich schien sich

Weitere Kostenlose Bücher