Rabenbrüder
Katastrophe. Wohl oder übel zeigte sie sich jetzt von ihrer sozialen Seite und versuchte, ihn zu trösten: Das sei ja entsetzlich! Beide Eltern innerhalb einer Woche! »Armer kleiner Jean Paul!«
Wie sollte sie verstehen, daß er daraufhin fuchsteufelswild wurde. Doch von nun an durfte ihn niemals mehr eine Frau mit Jean Paul anreden.
Im Endeffekt hatte er jetzt nicht nur Annette, sondern auch Olga verloren. Aber wieso hatte seine Frau gewußt, wo er sich gerade aufhielt? Paul hatte es stets vermieden, sich in der Öffentlichkeit mit seiner Geliebten zu zeigen, und ihre Treffen fanden ausschließlich bei ihr statt. Ob Annette einen Detektiv auf ihn angesetzt hatte? Oder hatte Olga ihrer ehemaligen Freundin höchstpersönlich einen Tip gegeben, um ihre Ehe zu zerstören?
Vor dem elterlichen Haus in Mainz-Bretzenheim stand ein schwarzer Mercedes und bewies durch seine düstere Existenz, daß alles kein Alptraum war. Eine Weile blieb Paul wie versteinert stehen und traute sich nicht, auf die Klingel zu drücken. Als sich die Tür auftat, trugen zwei graugekleidete Männer einen Sarg hinaus.
»Wohin wollen Sie meine Mutter bringen?« fragte Paul.
Die beiden setzten die Last ab, reichten ihm die Hand und sprachen mit routinierter Pietät ihr Beileid aus. »Wir fahren ins rechtsmedizinische Institut nach Mainz«, sagte der Ältere. »Die Leiche wird erst dann zur Bestattung freigegeben, wenn die Todesursache abgeklärt ist.«
Obwohl Paul derlei Vorschriften durchaus kannte, hatte er einen Augenblick lang nicht realisiert, was das bedeutete: Seine Mutter mußte obduziert werden. Die Männer öffneten die rückwärtige Wagentür, schoben den Sarg in den Laderaum und verabschiedeten sich.
Rasch trat Paul ins Haus. Wie oft hatte seine Mutter bei kaltem Wetter gerufen: Kinder, kommt sofort herein, ihr holt euch noch den Tod!
Als kleiner Junge hatte er gedacht, man dürfe den Tod auf keinen Fall wie eine streunende Katze zur Tür hereinhuschen lassen.
Erfüllt von Trauer, Mitleid und Erleichterung fiel ihm Frau Ziesel um den Hals. »Was für ein schreckliches Unglück!« schluchzte sie. »Weiß der Achim schon Bescheid?« Seit vielen Jahren gehörte sie zum Haushalt, aber zu Achim hatte Frau Ziesel wohl ein besonders inniges Verhältnis. Sie setzte Wasser auf. »Tee oder Kaffee?« fragte sie.
Es sei ihm egal, sagte Paul, ließ sich auf die Küchenbank fallen und drückte ihr seine Anteilnahme aus: Es müsse furchtbar für Frau Ziesel gewesen sein ...
»Das können Sie laut sagen!« bestätigte sie. »Gräßlicher geht’s gar nicht. Aber als ich hier saß und warten mußte, hatte ich Zeit zum Nachdenken, und wissen Sie, was ich glaube? Selbstmord war es nicht!«
»Wieso Selbstmord?« fragte Paul. »Darauf wäre ich überhaupt nicht gekommen!«
»Nun, wenn der Ehemann so plötzlich stirbt ...«, meinte Frau Ziesel, »aber vieles spricht dagegen, ich kann es Ihnen beweisen!«
Paul folgte ihr ins Schlafzimmer. Die Bettdecke seiner Mutter war aufgeschlagen, das schwarze Kostüm hing am Bügel, ihre Wäsche lag auf dem vakanten zweiten Bett. Auf dem Nachttisch befanden sich ein Kännchen Tee und ein Glas Honig, die Zeitung und das Fernsehprogramm.
»Man merkt doch gleich«, sagte Frau Ziesel, »daß sich die Mutti nach dem ganzen Stress so richtig entspannen wollte. Erst ein wohliges Bad und dann mit einem heißen Tee ins Nest.«
Sie führte Paul ins Badezimmer. »Sehen Sie mal, hier liegt ein frisches Nachthemd zum Anwärmen auf der Heizung. Das macht man doch nicht, wenn man es hinterher gar nicht mehr braucht. Und außerdem schlitzt man sich im Wasser meistens die Pulsadern auf.«
»Sie kennen sich ja aus!« sagte Paul. »Aber Selbstmord stand überhaupt nicht zur Debatte. Die Frage ist nur, woran sie letztendlich gestorben ist. Ich persönlich glaube, daß sie bewußtlos wurde und ertrank.«
»Da haben Sie allerdings recht«, sagte sie, »Ihre Mutti war ja mit Haut und Haaren untergetaucht.«
Mit dem Glas Honig in der Hand begab sich Frau Ziesel wieder in die Küche und goß Tee auf. »Trinken Sie, Johanniskraut beruhigt!« sagte sie. »Kann ich noch etwas für Sie tun? Ich muß jetzt nach Hause.«
»Natürlich werde ich Sie fahren«, sagte Paul, »wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, sie könnte sich umgebracht haben?«
»Nur so ein Gefühl«, sagte Frau Ziesel. »Man sagt doch: Sie folgte ihrem Mann in den Tod. - Vergessen Sie nicht, einen Hausschlüssel mitzunehmen; draußen liegt keiner
Weitere Kostenlose Bücher