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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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andererseits hatte sie das Bedürfnis, eine Weile lang mit keinem Menschen reden zu müssen. Aber bevor sie für den Rest des Tages auf dem Sofa landete, wollte sie für Ordnung sorgen, denn seit ihrem Unfall hatte sich niemand darum gekümmert, auch nicht die spanische Putzfrau. Zu Hause wie im Büro hatte Annette die undankbare Rolle des fleißigen Lieschens übernommen; manchmal fragte sie sich verzagt, warum sie dort nicht befördert und hier nicht ein einziges Mal gelobt wurde.
    Schade, daß sie vergessen hatte, einen Blumenstrauß auf die Einkaufsliste zu setzen, denn nach all den Aufregungen sehnte sie sich nach ein wenig Luxus und Verwöhnung. An einem grauen Tag wie heute würde eine dicke Kugelvase mit gelben, roten und orangefarbenen Tulpen ein wenig Farbe ins triste Dasein bringen.
    Beim Läuten des Telefons glaubte sie sofort, Achim würde sein Kommen ankündigen. Wenn er demnächst mit einem Rosenbukett vor der Tür stände, würde sie ihm beglückt um den Hals fallen, und das gotische Ungeheuer wäre vergessen. Doch statt dessen lag er wahrscheinlich mit seiner Gina im Bett.
    »Ist Paul da?« fragte eine unsichere Frauenstimme. Es war Frau Ziesel, die Haushaltshilfe ihrer Schwiegermutter.
    »Mein Mann ist im Moment unterwegs«, sagte Annette, »ich werde ihm ausrichten, daß er Sie zurückruft. Ist es eilig?«
    »Können Sie mir vielleicht sagen, was ich machen soll?« fragte Frau Ziesel. »Ich bin heute außer der Reihe gekommen, Betten abziehen und so weiter. Frau Wilhelms war ja völlig geschafft. Seit ich hier bin, ist sie nun schon im Badezimmer. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, denn nach all dem Stress .«
    »Haben Sie kräftig angeklopft?« unterbrach sie Annette.
    »Selbstverständlich, nichts rührt sich.«
    »Sie müssen sofort die Tür aufmachen«, befahl Annette. »Stecken Sie eine Münze oder einen Schraubenzieher in die Rille, damit kann man den Drehverschluß von außen öffnen. Ich warte am Apparat.«
    Das Herz klopfte Annette bis zum Hals, denn ihr schwante nichts Gutes. Immer neu ansetzende, schabende oder kratzende Geräusche ließen darauf schließen, daß Frau Ziesel kein handwerkliches Talent besaß, aber endlich hörte sie leider doch den befürchteten Schrei.
    Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis Annette die Auskunft erhielt, Frau Wilhelms sei wahrscheinlich in der Badewanne ertrunken. Frau Ziesel hatte zwar auf der Stelle das Wasser abgelassen, aber das hätte auch nichts gebracht.
    »Rufen Sie sofort den Notarzt«, sagte Annette. »Verstehen Sie etwas von Erster Hilfe? Herzmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung?«
    Davon habe sie keine Ahnung, sie wähle jetzt den Notruf, sagte Frau Ziesel energisch und legte auf.
    Annette bemerkte, daß ihr Mann sein Handy auf dem Küchentisch vergessen hatte. Noch zögerte sie, direkt bei Olga anzufragen, denn damit würde sie zugeben, daß sie über Pauls Affäre längst Bescheid wußte. Bei Achim hatte sie - wie bereits am Vortag - keinen Erfolg am Telefon, sprach aber diesmal auf seine Mobilbox und bat dringend um Rückruf.
    Kurz darauf meldete sich erneut die weinende Frau Ziesel. »Der Krankenwagen ist unterwegs«, sagte sie, »soll ich die Nachbarn holen? Ohne Hilfe kriege ich Frau Wilhelms nicht aus der Wanne. Aber wenn Sie mich fragen, kann man ihr nicht mehr helfen. Mein Gott, das mußte doch nicht sein!«
    Annette hörte bereits das Martinshorn. »Gehen Sie an die Tür, machen Sie auf!« rief sie, doch Frau Ziesel hatte bereits den Hörer hingeknallt.
    Was jetzt? Annette zitterte am ganzen Leib, denn es fielen ihr nur Fragen und keine Antworten ein. Wieso mußte sie die Verantwortung übernehmen, während sich beide Söhne einen schönen Tag machten? Was meinte Frau Ziesel mit den Worten das mußte doch nicht sein? Dachte sie an Selbstmord?
    Erst war Helens Mann gestorben, kurz darauf wurde ihr Geliebter erwürgt - wie sollte sie unter diesen Umständen noch weiterleben wollen? Andererseits war es nicht ganz sicher, ob sie ihren Mann wirklich betrogen hatte; in diesem Fall war Annette mitschuldig, weil sie die Schwiegermutter mit ihrer Bezichtigung tief getroffen haben mußte. Annette rechnete damit, daß Frau Ziesel ihr bald das endgültige Ergebnis der ärztlichen Untersuchung mitteilen würde. Sollte Helen wirklich tot sein, mußte sie wohl oder übel bei Olga anrufen. Wie würde Paul diese Nachricht verkraften? Fast erging es ihm jetzt wie ihr selbst, als sie vor Jahren beide Eltern gleichzeitig verloren hatte.
    Es kam Annette

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