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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Schrank nahm, fiel ihm der Elektroschocker wieder ein. Eigentlich war er sich sicher, die Waffe wieder an die gleiche Stelle zurückgelegt zu haben, aber dort war sie nicht mehr zu finden.
    Den abgekühlten Tee trank Paul im Bett. Auf der Suche nach einer Schlaftablette zog er auf gut Glück die Nachttischschublade auf. Tatsächlich stieß er auf Annettes Pillenpackung, von der etwa die Hälfte fehlte. Paul überlegte, wie viele er selbst und Annette geschluckt haben mochten und ob seine Mutter die Tabletten überhaupt angerührt hatte.
    Bei einem beabsichtigten Selbstmord hätte sie es aber in jedem Fall anders angestellt. Es war nicht der Stil seiner Mutter, sich von der langjährigen, treuen Haushaltshilfe unbekleidet in der Wanne auffinden zu lassen. Bereits im Halbschlaf kam Paul seine Bahnfahrt von Mainz nach Mannheim wieder in den Sinn. Im Hochwasser des Flusses hatte er sich seine Mama, die in ihren hellen Gewändern von weitem wie ein junges Mädchen wirkte, als leblose Ophelia vorgestellt. Hatte er damals bereits eine Vorahnung gehabt? In der Realität war sie allerdings in der Badewanne ertrunken und nicht von der Strömung des Mains davongetragen worden. Paul nahm sich vor, ihr keinen Abschiedsbesuch abzustatten, sondern das bezaubernde Bild einer schönen jungen Mutter im Gedächtnis zu behalten.
    Als das Schlafmittel wirkte, fühlte er sich unversehens frei von allen Sorgen. Nelkenduft umhüllte ihn, er war in den Mutterschoß zurückgekehrt.
    Taubenaugen
    Am Sonntag morgen saß Paul mit einer Tasse Kaffee an Mutters Küchentisch, wo er unter ihrer Aufsicht häufig seine Schularbeiten gemacht hatte. Damals war das Wachstuch blaugepunktet, inzwischen grünkariert. Gelegentlich hatte er mit dem Kugelschreiber darauf herum-gekrakelt; wenn sie ihn dabei ertappte, warf ihm die Mutter einen Spülschwamm an den Kopf. Ihre permanenten Ermahnungen klangen Paul immer noch in den Ohren: Sitz nicht so krumm! oder Die Schrift wurde erfunden, damit man sie lesen kann, Jean Paul! Und erst kürzlich im gleichen vorwurfsvollen Tonfall: Wenn du genug Geld hättest, würdest du nur noch faulenzen!
    Das Erbe stand zwar bald zur Verfügung, aber Paul konnte sich nicht darüber freuen, denn Müßiggang war aller Laster Anfang. Seine Mutter hatte gehofft, daß er ein angesehener Anwalt würde. Er meinte sich zu erinnern, es ihr irgendwann versprochen zu haben. Gedankenverloren zupfte er Blätter von einem Petersiliensträußchen, das in einem Senfglas vor seiner Nase stand. Wer mochte es gekauft haben?
    Er konnte sich vorstellen, daß ihm die Mutter zwar keinen monatelangen Segeltörn, aber immerhin eine perfekte Sekretärin zugebilligt hätte. Bisher hatte er sich mit sei-
    nem Partner, der auf Immobilien- und Mietrecht spezialisiert war, eine inkompetente Halbtagskraft geteilt. Im allgemeinen mußte Paul eigenhändig die Fristenbücher führen, Gerichtstermine und Mandantengespräche eintragen, ja sogar die Akten von der Staatsanwaltschaft zur Einsicht anfordern. Wenn er weniger subalternen Schreibkram am Hals hätte, könnte er sich eher auf seinen eigentlichen Beruf konzentrieren, und seine Mutter hätte keinen Grund, sich im Jenseits über seine Trägheit zu beklagen. Bei künftigem Fleiß, Erfolg und Aufstieg würde sie ihm wohl auch die Erfüllung seiner Träume zugestehen.
    Achim hätte seinen Anteil rasch verzockt, und das wäre der Mutter noch mehr gegen den Strich gegangen als Faulenzerei - falls es stimmte, was sie über seine Spielsucht erfahren hatte. Paul mußte unbedingt mit Simon reden und blätterte unverzüglich im Telefonbuch, um die Adresse herauszufinden.
    Zwei Stunden später saß er tatsächlich jenem Simon gegenüber, der bei ihrer letzten Begegnung noch ein Teenager gewesen war. Der übernächtigte junge Mann war in T-Shirt und Trainingshose nicht wiederzuerkennen. Damals trug Achims Freund ein ebenso unmodernes wie schmuddeliges Palästinensertuch und fuhr ein Moped, an dem er pausenlos herumbastelte. Paul erinnerte sich noch gut, wie schwarz Simons gepflegte Fingernägel damals waren.
    Mit feuchten Augen bediente Simon eine Kaffeemaschine. Der plötzliche Tod von Pauls und Achims Mutter machte ihm sichtlich zu schaffen. »Ich habe sie geliebt«, sagte er und schluckte ein paarmal. Paul wußte anfangs nicht, ob er diese Worte harmlos interpretieren konnte, doch sein Mißtrauen erwies sich als unbegründet. Was Simon erzählte, klang dankbar und loyal.
    »Dein Bruder ist zwar seit vielen Jahren mein

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