Rabenbrüder
vor, als sei eine endlose Zeit verstrichen, bis sich ein unbekannter Arzt mit ihr in Verbindung setzte. Aufgrund der Abkühlung ihres Körpers nahm er an, daß Pauls Mutter schon seit Stunden tot war; beim besten Willen sei keine Rettung mehr möglich gewesen. Dann wollte er wissen, wer der Hausarzt der Verstorbenen sei, ob sie unter chronischen Krankheiten oder Depressionen gelitten und regelmäßig Medikamente eingenommen habe? Da er im vorliegenden Fall nur den Tod, aber nicht die Ursache feststellen konnte, hielt er eine Obduktion für unumgänglich. Falls die Gerichtsmediziner ihrerseits den Verdacht auf einen nicht natürlichen Tod äußerten, müßte auch die Kripo eingeschaltet werden. Annette fühlte sich völlig überfordert, und der Notarzt empfahl ihr, schnellstens die Söhne zu verständigen.
Nach zehn Minuten, in denen Annette ganz gegen ihre Prinzipien einen Schluck Rum aus der Flasche trank, rief die bedauernswerte Frau Ziesel abermals an.
»Der Arzt sagte, ich müßte warten, bis der Leichenwagen kommt. Außerdem wollte er wissen, ob das Badewasser noch warm war. Können Sie denn nicht wenigstens den Achim erreichen? Ich bin fix und fertig und will nach Hause!«
Annette beruhigte die Frau und versprach Beistand.
Olga ging lange nicht an den Apparat. »Ist Paul bei dir?« fragte Annette.
»Warum sollte er?« kam es fast schnippisch zurück.
Jetzt sei keine Zeit für Spielchen, sagte Annette, es sei etwas Furchtbares geschehen.
Tatsächlich hatte sie Paul sehr schnell an der Strippe. »Kommt jetzt die große Eifersuchtsszene?« fragte er. »Okay, zwischen uns muß wohl einiges geklärt werden!«
»Halt die Klappe!« zischte sie. »Hättest du dein Handy bei dir, wäre mir diese peinliche Situation erspart geblieben. Es tut mir leid, aber ich muß dir sagen, daß deine Mutter gestorben ist.«
Paul glaubte es nicht. Geschmackloser könne ihre Rache kaum ausfallen, sagte er. Offensichtlich war er der Meinung, sie habe durch irgendwelche Klatschmäuler von seinem Seitensprung erfahren und versuche nun, ihm mit einer perfiden Behauptung den Appetit zu verderben. Dabei hatte er bis zu Annettes Anruf zwar erfahren, daß Olga gar nicht ohne ihn in Granada gewesen war, mußte sich aber ansonsten mit einer mehr als zurückhaltenden Geliebten zufriedengeben.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, setzte er erneut an und unterdrückte mühsam seinen Zorn. »Du bist krank, du bist wütend. Für alles kann man Verständnis aufbringen, aber jetzt gehst du zu weit. Nimm am besten eine Schlaftablette, und leg dich wieder hin. Wir reden später, wenn du nicht mehr so hysterisch bist.«
Um ihn von ihrer psychischen Stabilität zu überzeugen, versuchte Annette, möglichst langsam und präzise zu sprechen. Wenn er ihr nicht glaube, solle er doch in Bretzenheim anrufen! Dann werde er ja hören, was Frau Ziesel zu sagen hätte.
Eine Sekunde lang wirkte Paul verunsichert, aber seine Antwort fiel zynisch aus: »Eine derart gehässige Lüge werde ich weder vergessen noch verzeihen. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich dich morgen in die Psychiatrie einweisen lasse.«
Sie legte auf.
Langsam verzweifelte Annette. Erst betrog sie ihr Mann, dann baute er einen Unfall, bei dem sie schwer verletzt wurde, und nun wurde sie auch noch als Verrückte abgestempelt. Womit hatte sie das verdient! Wieviel lieber hätte sie jetzt ihre Ruhe gehabt, statt sich um Pauls tote Verwandtschaft kümmern zu müssen. Eine undankbarere Aufgabe konnte sie sich kaum vorstellen, wo doch ihre Schwiegermutter ohnedies nur blutsverwandte Familienangehörige akzeptiert hatte. Zum Glück konnte Paul ihre Gedanken nicht lesen, denn insgeheim bedauerte Annette, daß seine Mutter nicht drei Tage früher gestorben war. Dann hätte man beide Beerdigungen in einem Aufwasch erledigen können.
Nicht ungern hätte sie Pauls Vorschlag befolgt und ein
Sedativum geschluckt. Wenn sie sich für die nächsten Stunden von dieser Welt verabschiedete, konnte er sehen, wie er allein zurechtkam. Olga würde ihn bestimmt nicht nach Mainz begleiten. Wo waren eigentlich die Medikamente, die ihr Markus mitgegeben hatte? Eigentlich mußten sie samt Paß, Geld und Flugticket noch in ihrer Handtasche stecken. Die Tasche fand sich zwar im Arbeitszimmer, aber die blauen Pillen fehlten.
Ob Helen am Ende diese Tabletten alle auf einmal genommen hatte? Annette erinnerte sich, daß vor Jahren zwei Reporter einen toten Politiker in einer Hotelbadewanne aufgefunden hatten. Ein
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