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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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genauso. Fast schien es ihm ein Wink seiner toten Eltern zu sein, als ein hell erleuchtetes Schild vor ihm auftauchte: >Die Wildgans<. Hier hatte sein Vater so gern gegessen, hier hatte die Mutter wohl ihren Liebhaber kennengelernt, und hier würde ihn Achim vielleicht eines Tages als Chef des Hauses begrüßen. Aber hatte sein Bruder nicht gesagt, das Lokal sei geschlossen?
    Da das Restaurant halb leer war, bekam Paul den begehrten Platz in einem kleinen Erker. Lange starrte er auf die Speisekarte und konnte sich nicht entscheiden. War es richtig, ausgerechnet hier zu essen? Mit schlechtem Gewissen bestellte er schließlich das billigste Gericht. Obwohl es lecker aussah, schienen seine Geschmacksnerven zu versagen; es kam ihm fast so vor, als müßte er Heu und Stroh hinunterwürgen.
    »Hat’s geschmeckt?« fragte die Bedienung und räumte den Teller ab.
    »Nein«, sagte Paul, der gar nicht provozieren oder reklamieren wollte.
    Leider holte sie sogleich den Oberkellner. »Der Herr war nicht zufrieden? Woran fehlt’s?« fragte er. »Gina, bring noch mal die Speisekarte! Wie wär’s mit einem schönen Dessert auf Kosten des Hauses?«
    Paul lehnte ab. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »es liegt nicht an Ihnen! Am ehesten hilft mir vielleicht ein Schnaps.«
    Als die Kellnerin den Cognac servierte, fragte Paul, ob sie einen Achim Wilhelms kenne.
    Sie nickte.
    »Ist er oft hier?« bohrte Paul weiter.
    »Allerdings«, sagte sie ein bißchen patzig, »und im Gegensatz zu Ihnen war er niemals miesepetrig oder unzufrieden mit dem Essen. Sind Sie etwa von der Polizei?«
    Sie hatte ein Nasenpiercing, das Paul nicht gefiel, aber sonst war sie ganz niedlich. Achim sei sein Bruder und habe erzählt, daß sie aus dem Tessin stamme, begann er seine Recherche.
    Gina schüttelte mißtrauisch den Kopf. Das könne nur eine Verwechslung sein, sie sei noch nie in der Schweiz gewesen. Außerdem habe Herr Wilhelms keinen Bruder erwähnt, und Paul sehe ihm auch nicht ähnlich.
    Auf dem Heimweg ging Paul mancherlei durch den Kopf. Sollte Achim tatsächlich oft in der >Wildgans< gewesen sein, dann müßte er eigentlich Heiko Sommer bestens kennen. Als sie damals den spärlich bekleideten Mann in Mutters Küche überraschten, war sein Bruder aber ebenso konsterniert gewesen wie Paul, und auch Heiko Sommer hatte mit keinem Wimpernzucken verraten, daß er mit Achim bekannt war. Und was Gina betraf - der Name kam in Deutschland nicht besonders häufig vor -, konnte es bloß Zufall sein, daß diese junge Frau genauso hieß wie die Freundin seines Bruders? Es gab viele Fragen, die nur Achim beantworten konnte.
    Erst im Elternhaus sah Paul auf die Uhr; es war noch nicht zu spät, um Annette anzurufen. Er war dankbar, daß sie sich alles in allem fair benommen und nicht die Furie gespielt hatte. »Hallo«, sagte er, »ich komme heute nicht mehr nach Hause, aber das hast du dir wohl schon gedacht. Gibt es eine Nachricht von meinem Bruder?«
    »Nein«, sagte sie, aber in diesem Fall werde sie Achim sofort nach Mainz beordern. Als Annette fragte, ob es sehr schlimm gewesen sei, empfand sie im gleichen Augenblick die eigene Wortwahl als unpassend.
    »Ja«, meinte Paul, »und es wird sicher alles noch schlimmer kommen. Aber ich melde mich morgen wieder. Gute Nacht!«
    Bevor er auflegte, hörte er ein verhaltenes Schniefen.
    Aus alter Gewohnheit begab sich Paul zum Schlafen in die Mansarde. Frau Ziesel hatte hier bereits geputzt, abgezogen und die Matratze zum Lüften hochkant gestellt. Im Gästezimmer und bei Achim sah es ähnlich aus. Nur das Bett seiner Mutter wirkte einladend, ja es übte einen rätselhaften Sog aus. Paul beschloß, diesen Abend so zu gestalten, wie es seine Mutter gestern vorgehabt hatte: Baden, Tee trinken, unter ihrer Daunendecke liegen und Zeitung lesen.
    Während das Badewasser einlief, kochte er Kräutertee. Heute trank er ständig dieses fade, beruhigende Zeug. Annette hätte ihre helle Freude an ihm. Er stellte Tasse und Honig auf den Nachttisch und rannte schnell wieder in Mamas salle de bain, um eine Überschwemmung zu verhindern; den Schlafanzug hängte er an die Heizung.
    Sobald er in das warme Wasser glitt, wurde Paul unendlich müde, fast war ihm, als dürfe er jetzt auch in einen Ort des ewigen Vergessens abtauchen. Erst nach einer guten halben Stunde riß ihn die dröhnende Radiomusik eines vorbeifahrenden Autos aus dem Trancezustand; es war höchste Zeit, sich aufzuraffen.
    Als Paul ein frisches Handtuch aus dem

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