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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Foto, das am Tatort gemacht wurde, spukte ihr dank häufiger Veröffentlichungen heute noch im Kopf herum. Soweit sie wußte, waren die Umstände nie restlos aufgeklärt worden. Unfall, Selbstmord oder Mord? Jedenfalls hatte ein Toxikologe Spuren eines überdosierten Schlafmittels gefunden.
    Doch der Fall ihrer Schwiegermutter sah anders aus. Helen hatte stets auf körperliche Fitneß geachtet, weder geraucht noch getrunken, sich vitaminreich und fettarm ernährt. Durch regelmäßiges Tai Chi war sie gelenkig geblieben. Es war bestimmt nicht ihre Art, ohne zwingenden Grund Arzneimittel einzunehmen.
    Eine halbe Stunde später hörte sie Pauls Schritte an der Haustür. Also hatte er tatsächlich in Mainz angerufen und mußte nun mit der traurigen Tatsache fertig werden. Wie sollte sie sich verhalten? Annette blieb stoisch sitzen und wartete ab.
    Paul sah jämmerlich aus. Noch im Mantel ließ er sich auf einen Sessel fallen, verbarg das Gesicht in den Händen und wimmerte vor sich hin. Annette konnte den Anblick kaum ertragen und hatte das starke Bedürfnis, ihn tröstend am Busen zu wiegen. Obwohl Paul sie noch vor kurzem für verrückt erklärt hatte, setzte sie sich neben ihn auf die Lehne und legte zaghaft den Arm um seine Schulter. Sie hatte nicht erwartet, daß er sie heftig an sich zog. Irgendwann hatte sich Paul aber so weit gefangen, daß er seine rüden Worte bedauernd zurücknahm.
    Ob sie nach Bretzenheim mitkommen solle, fragte sie, aber er schüttelte den Kopf. Später half sie, ein paar Sachen zu packen, und vergaß auch nicht, ihm das Handy in die Sakkotasche zu stecken. Paul bat darum, immer wieder bei seinem Bruder anzurufen. Leider hatte er keine Ahnung, wie Gina mit vollem Namen hieß und wo sich Achim aufhalten könnte.
    »Wahrscheinlich hatte Mama einen Herzinfarkt«, mutmaßte er und zündete sich eine Zigarette an, »ich mache mir solche Vorwürfe! Wie konnten wir sie nur allein lassen, obwohl sie so krank und erschöpft aussah.«
    Um Paul in seinen Schuldgefühlen nicht zu bestärken, schwieg Annette über die Möglichkeit eines Suizids. Er würde noch früh genug in diese Richtung forschen, denn er zerbrach sich über alle nur denkbaren Ursachen den Kopf.
    »Hätten wir an ihrer belegten Stimme nicht merken müssen, daß sie erkältet war? Vielleicht hat sie Fieber bekommen und im heißen Badewasser einen Kreislaufkollaps erlitten.«
    Aus reiner Barmherzigkeit versicherte Annette, das sei die wahrscheinlichste Erklärung. Aber schon wurde Paul von einer neuen Horrorvorstellung gequält. Vor ein paar Tagen habe seine Mutter über Schlafstörungen geklagt, und er habe ihr Annettes Pillen empfohlen. Unter Umständen könnte sie gegen ihre sonstigen Gewohnheiten ein paar Tabletten zuviel geschluckt haben. Paul ließ mehrere Sätze unvollendet, alle fingen mit hätte an. Dann starrte er nur noch in eine Ecke.
    Unbeholfen versuchte Annette, ihm mit Streicheln und Rückentätscheln ihr Mitgefühl zu zeigen. »In keinem Fall trifft dich eine Schuld«, sagte sie. »Aber das Grübeln hilft uns nicht weiter, warten wir erst einmal ab, was die Mediziner sagen. Bestimmt war es eine Verkettung verhängnisvoller Umstände. Mir wäre es im übrigen lieber, wenn du nicht mit dem Auto losfährst.«
    Über Olga wurde nicht gesprochen. Nach einem starken Kaffee holte Paul die eingekauften Lebensmittel aus dem Wagen und trug sie in die Küche. Dann setzte er sich in den Saab und gab Gas.
    Dreimal Kräutertee
    Es war Paul bei der Abfahrt nach Mainz ganz klar, daß sein eigener Tod der nächste in der Serie sein würde; nach einem rätselhaften Schicksalsplan sollte wohl seine ganze Familie ausgelöscht werden. Völlig besessen von dieser Vorstellung wäre er aus Unachtsamkeit beinahe gegen eine Leitplanke gerast und hätte seinem Leben tatsächlich ein Ende gesetzt.
    Im Augenblick kam es ihm so vor, als ob er alles falsch machte. Voller Scham erinnerte er sich, daß er bei seinem überstürzten Aufbruch am liebsten Olga ins Gesicht geschlagen hätte. Gleich als er eintraf, hatte sie ihm sein falsches Spiel vorgehalten, denn inzwischen wußte sie, daß er auch Markus juristisch beraten hatte. Ausgerechnet während dieser unerfreulichen Auseinandersetzung wurde er am Telefon verlangt; Olga verließ zwar ärgerlich das Zimmer, aber keineswegs, um mit dem Kochen zu beginnen.
    Nachdem Paul etwas halbherzig in Mainz angerufen hatte und schockiert erfuhr, daß Annette die Wahrheit gesagt hatte, informierte er Olga über die

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