Rabenbrüder
wurde mein Vater beerdigt, demnächst muß ich eine Trauerfeier für Mama organisieren. Wenn ich dich nun fragte: Soll ich Löwenmäulchen oder Astern auf ihr Grab pflanzen?«
Ganz erschrocken schlug sich Markus mit der Hand gegen die Stirn. »Mensch, was bin ich doch für ein Egoist! Du mußt mich ja für völlig infantil und taktlos halten. Im übrigen gibt’s jetzt noch keine Sommerblumen, und für den Sarg deiner Mutter bieten sich doch weiße Hyazinthen an.«
»Das geht nicht«, sagte Paul, »sie liebt Löwenmäulchen. Gelb, weiß, rosa und dunkelrot. Markus, ich glaube, ich drehe noch durch.«
Offensichtlich war Markus bestürzt und überlegte, wie er seinen Freund ein wenig aufmuntern konnte. »Weißt du was«, schlug er vor und schlüpfte in seinen bräunlichen
Lodenmantel, »mein Wagen steht nicht weit von hier in der Fressgass’. Möchtest du vielleicht mit zu uns kommen? Krystyna macht einen vorzüglichen Espresso, und wenn du magst, kannst du dich noch ein bißchen aufs Ohr legen.«
Verwundert fragte Paul, ob Markus nicht zurück ins Krankenhaus müsse. Bis um vier sei noch Zeit, sagte der Freund, »ich fahre dich dann zurück in die Kanzlei. Oder hast du einen Gerichtstermin?«
Erst morgen, meinte Paul, dem im Prinzip bis auf die angebotene Liege alles egal war. Hätte er geahnt, daß sich sein Bruder inzwischen bei Annette eingenistet hatte und dort ebenfalls alle viere von sich streckte, hätte er Sofa und Espresso sicherlich ausgeschlagen.
Während Paul ein liebevoll eingerichtetes Kinderzimmer in Mannheim-Vogelstang bewundern sollte, hatte Achim in Annettes Küche den Tee bereitet. Mit einem übervollen Tablett baute er sich wie ein Butler vor ihr auf, goß Earl Grey in zwei Tassen, wollte ihr sogar den Zucker umrühren und gähnte herzhaft.
»Von woher kommst du überhaupt, du todmüder Samariter?« fragte sie. »Anscheinend bist du schon seit vielen Stunden unterwegs!«
»So ist es«, sagte Achim und fixierte sie mit rotstichigen Augen.
»Wolltest du nicht deine Freundin abholen?« erkundigte sie sich wißbegierig.
Achim runzelte die Stirn. »Es ist aus«, sagte er, »aus und vorbei. Ich werde dir später alles erzählen.«
Nach einem zweiten Gähnanfall bat er darum, sich zehn Minuten auf die Couch legen zu dürfen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er die Halbstiefel aus, schnappte sich ein weißes Seidenkissen und rollte sich zusammen. Besorgt beobachtete Annette, wie ein Speichelfaden aus seinem Mundwinkel sickerte und über kurz oder lang ihr Lieblingskissen erreichen würde. In guter Absicht klemmte sie ein schützendes Papiertuch zwischen Achim und Seide und holte ein Plaid, das sie über ihm ausbreitete; schließlich hob sie seine Schuhe auf, schnupperte kurz daran und stellte sie in den Flur. Bevor sie endlich zur Ruhe kam und ihren Tee austrank, wusch sie sich gründlich die Hände.
Genaugenommen war es ihr sehr recht, daß Achim sofort eingeschlafen war. Von ihr aus konnte er schnarchen, bis Paul eintraf. Es war nur jammerschade, daß Olga ihn gleich durch ihr penetrantes Klingeln wieder aufwecken würde. Rein prophylaktisch postierte sich Annette in Lauerstellung am Fenster und betrachtete zwischendurch mit Argwohn, wie Achims Füße immer wieder zuckten, als wollten sie davonlaufen. Es kam ihr vor, als sei er auf der Flucht und habe hier für kurze Zeit ein Asyl gefunden. Wo mochte er gewesen sein, was hatte er erlebt? Hatte es heftige Auseinandersetzungen mit der Freundin gegeben?
Achim war ein notorischer Lügner, das hatte er mehrfach unter Beweis gestellt. Erstens hatte er behauptet, daß Paul mit der eigenen Mutter Sex gehabt hätte, zweitens, daß die gleiche hochgeschätzte Mama mit einem viel jüngeren Kraftprotz schlafe. Ob auch die Geschichten vom vergrabenen Kind oder überfahrenen Hund erfunden waren? Hatte er wirklich eine Freundin? Konnte man Achim überhaupt noch irgend etwas glauben? Längst bereute Annette ihren hastigen Seitensprung, denn Achims Komplimente und Liebenswürdigkeiten waren bestimmt nur strategische Maßnahmen gewesen.
Als ein Wagen vorfuhr, huschte sie sogleich an die Gartenpforte. Olga schloß ihr Auto ab, winkte freundlich und wollte etwas rufen, aber Annette legte den Finger an die Lippen. Als die Freundin näher kam, flüsterte sie: »Pscht, ganz leise bitte!«
Ob Paul etwa zu Hause sei? fragte Olga verunsichert.
Annette schüttelte den Kopf und war froh, daß sie vorerst einer Umarmung entgangen war. Bedauerlicherweise könne sie
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