Rabenbrüder
Olga jetzt nicht ins Haus lassen, denn Pauls Bruder sei gerade eingetroffen und wisse noch nichts vom Tod seiner Mutter. Die Aufgabe der Unglücksbotin bleibe leider an ihr hängen, weil Paul mal wieder nicht zu erreichen sei. Es wäre Achim sicher peinlich, wenn eine völlig Fremde ihn weinen sehe.
Durch mehrmaliges Nicken deutete Olga ihr Einfühlungsvermögen an, meinte aber doch: »Hier draußen kann er uns schwerlich hören, wenn du dir Schuhe anziehst und einen Mantel holst, könnten wir uns im Garten aussprechen.«
Annette zögerte. »Dafür ist es mir zu kühl. Außerdem ist er gerade auf dem Sofa eingenickt, denn er war endlos lange unterwegs. Wenn er wach wird, muß ich neben ihm sitzen, Händchen halten und wohl oder übel mit dem Katastrophenbericht beginnen.«
Man sah der Besucherin an, daß sie sich ungern abwimmeln ließ. »Ach, komm«, sagte Olga, »jetzt bin ich schon mal hier, um Frieden zu schließen, jetzt wirst du mich so schnell nicht los. Wenn wir uns in die Frühstücksecke setzen und ganz leise reden, kriegt er im Wohnzimmer bestimmt nichts mit.«
Ehe es Annette verhindern konnte, schlüpfte Olga an ihr vorbei und steuerte geradewegs auf die Küche zu. Hier sah es nicht ganz so perfekt wie im Wohnraum aus, was Annette allerdings ein Kompliment einbrachte.
»Richtig zum Wohlfühlen«, sagte Olga. »Einmal im Leben möchte ich so ordentlich sein wie du! Habt ihr inzwischen eine Espressomaschine? Nee, für mich keinen Tee, dann schon lieber ein Glas Rotwein!«
Neugierig erhob sie sich und deutete auf die Durchreiche. »Ich würde ihn mir ja zu gern mal anschauen!« sagte sie und öffnete skrupellos das Schiebetürchen.
Erschrocken setzte Annette die Flasche ab und gesellte sich an Olgas Seite. Obwohl man Achim gut im Visier hatte, konnte man nicht viel von ihm erkennen, weil er sich inzwischen bis zur Nasenspitze eingemummelt hatte. Annette machte das Fensterchen ebenso lautlos wie nachdrücklich wieder zu.
Erst auf eingehendes Befragen erzählte Annette ihrer Schulfreundin, wie sie ihrem Mann auf die Schliche gekommen war. »Die Sache mit dem Handy war purer Zufall, ich habe ihm nie hinterhergeschnüffelt«, sagte sie und vergaß dabei das Filzen von Pauls Brieftasche und das Lesen seiner E-Mails.
»Und wenn schon«, seufzte Olga, »wenn ein konkreter Verdacht aufkommt, wird doch jede Frau zur Detektivin. Wer möchte da den ersten Stein werfen.«
»Du sicherlich nicht«, sagte Annette und dachte an die nächtliche Begegnung im Krankenhaus.
Nach einem Glas Wein setzte Olga zu einer vagen Entschuldigung an: »Bestimmt bist du erleichtert, daß unsere Affäre jetzt zu Ende ist. Vielleicht tröstet es dich, daß ich eine betrogene Betrügerin bin ...«
Annette nickte nur und verkniff sich mühsam die Tränen.
Olga reichte ihr eine Rolle Küchenpapier.
So einfach, wie Olga sich das dachte, ging das nicht, fand Annette, da kam sie in ihren ordinären roten Schuhen im Galopp hereingefegt und wollte geradewegs die Friedenspfeife rauchen. Über einen Vertrauensbruch mußte doch erst einmal Gras wachsen! Annette blieb stumm und unnahbar, um Olgas Umarmung abzublocken.
»Ich weiß nicht, ob du das schon mal erlebt hast«, sagte Olga. »Wenn man lange nicht mit einem Mann geschlafen hat, läßt man sich allzu bereitwillig mit dem Nächstbesten ein. Später erkennt man, daß es ein grober Fehler war.«
Annette wußte genau, wovon die Rede war, ließ es sich aber nicht anmerken. Daß gerade Paul als Nächstbester hergehalten hatte, war sicherlich kein Grund zur Freude, allerdings war das eigene Schäferstündchen mit Achim ebensowenig ein Ruhmesblatt.
»Nun sag doch endlich auch mal was«, forderte Olga.
»Fändest du es besser, wenn ich meinen Mädchennamen wieder annehme?«
Annette schüttelte den Kopf. Baumann oder Möller, das war Jacke wie Hose.
»Was hat eigentlich eure Dunstabzugshaube gekostet?« fragte Olga und betrachtete staunend das High-TechGerät aus Edelstahl.
Plötzlich hörten sie ein Stöhnen aus dem Wohnzimmer.
»Er wird wach«, sagte Annette aufgeregt und öffnete erneut einen Spalt der Durchreiche; die größere Olga linste ihr über den Kopf. Achim hatte sich teilweise freigestrampelt und sah aus wie ein fiebriges Kind, das gleich nach seiner Mutter rufen wird.
»In meinem Leistungskurs sitzt ein ganz ähnlicher Typ«, flüsterte Olga. »Bei einem mißglückten Aufsatz hat er neulich Rotz und Wasser geheult. Soll ich nicht doch lieber hierbleiben? In Anwesenheit
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