Rabenbrüder
Paul, »so viele fehlten nicht.«
Ohne die Krankengeschichte der Mutter zu kennen, wollte Markus allerdings ebensowenig wie der elterliche Hausarzt eine Diagnose stellen. Seine vorsichtigen Hypothesen hörten sich fast wie Pauls eigene an.
»Vielleicht könntest du - als Kollege - bei den Mainzer Gerichtsmedizinern anrufen«, bat Paul. »Bestimmt sagen sie dir eher etwas über das Ergebnis der Obduktion.«
Obwohl Markus daran zweifelte, rief er an.
Wie erwartet, beschied man ihn abschlägig: Man sei im Augenblick überlastet, und es gebe mehrere Fälle, die Vorrang hätten.
»Daraus kann man immerhin schließen, daß sie von einem natürlichen Tod ausgehen«, überlegte Markus laut.
Paul konnte seinerseits auch nicht mit spektakulären Ratschlägen aufwarten. Die gemeinsame Wohnung komme zur Versteigerung, falls Olga weiterhin die Auszahlung verweigere. »Es ist die Frage, ob du ihr das antun willst«, sagte er matt. Und gleichzeitig dachte er sich: Was mache ich da eigentlich, ich rede mit einem guten Menschen über seine belanglosen Probleme, obwohl meine eigenen zum Himmel schreien. Ich müßte über meinen unguten Bruder nachdenken, wie kann ich mich da auf juristische Fragen konzentrieren?
Das Wetter war endlich besser geworden. Da es nicht allzuweit vom Büro bis zum Paradeplatz war, wollten sie dort gemeinsam in einem Bistro essen gehen, denn Markus mochte weder Börek noch Biber Dolmasi. Der Arzt war bester Laune und pfiff: Es grünt so grün. Bei Spaniens Blüten mußte Paul an Granada denken, sah prüfend in den nordischen Himmel und wäre um ein Haar über eine leere Bierdose gestürzt.
»Gestern sind wir an die Bergstraße gefahren, um die Obstblüte zu bewundern«, erzählte Markus, »eigentlich wohnen wir hier sehr privilegiert zwischen Odenwald und Pfalz. Krystyna kennt das alles noch nicht. Übrigens besteht sie auf einer katholischen Trauung, ich muß ihr demnächst beibringen, daß ich seit Jahren aus der Kirche ausgetreten bin. Natürlich seid ihr herzlich zur Hochzeit eingeladen. Ob ich Olga kommentarlos eine Geburtsanzeige schicke, oder ist das zu feige?«
»Sie weiß längst Bescheid«, sagte Paul. »Die Chance, es ihr persönlich zu gestehen, ist verpaßt. Offenbar sind wir Männer allesamt keine Helden, wenn es ans Eingemachte geht.« Wieder einmal ging ihm durch den Kopf, woher und wie lange Annette von seiner Affäre gewußt hatte.
Unterdessen fackelte Olga nicht lange. In einem Anfall von spontaner Wut und Rachsucht griff sie zum Hörer: »Anscheinend hast du ja längst gewußt, wie der Hase läuft«, sagte sie zu Annette. »Wie schafft man es, so eisern die Klappe zu halten? Trotzdem könntest du meine Neugier befriedigen und mir verraten, wie du es herausgekriegt hast. Paul wird es dir wohl kaum gebeichtet haben, Männer bescheißen uns doch von früh bis spät. Von mir aus kannst du deinen Windhund wieder persönlich an die Leine nehmen.«
»Spielt das noch eine Rolle?« fragte Annette und hätte sich am liebsten die Ohren verstopft. Sie verstand Olgas Anruf nicht, konnte aber kein vernünftiges Wort herausbringen und mußte weinen.
Das rührte Olga. »Schatz, der Kerl ist doch keine Träne wert! Weißt du was, ich komme schnell vorbei, ich muß dich mal ganz fest in den Arm nehmen«, bot sie an.
»Hast du keine Schule?« schluchzte Annette, aber Olga hatte schon zwei Stunden lang unterrichtet und für heute keine anderen Pflichten. Sie bebte vor Tatendrang.
Erst vor zwanzig Minuten war Annette mit einem Taxi heimgekommen und wollte eigentlich den Rest des Tages auf dem Sofa verbringen. Der Arzt hatte sie weiterhin krank geschrieben und ihr verboten, die Gipsschale abzunehmen. »Nur unter der Dusche!« hatte er angeordnet, »und wie gehabt: linken Arm schonen, rechten nicht übermäßig belasten!« Sie rief noch rasch im Büro an.
Der Chef meinte, er hätte sowieso nicht erwartet, daß sie nach ihrem schweren Unfall schon wieder arbeiten könne. »Wir kommen ganz gut ohne Sie zurecht«, sagte er. »Jessica macht ihre Sache vorzüglich. Im Herbst will sie einen Spanischkurs besuchen, dann werden wir sie mal nach Brasilien schicken.«
Annette verschlug es fast die Sprache. »Erstens hat Venezuela absolute Priorität!« rief sie aufgebracht. »Zweitens spricht man in Brasilien Portugiesisch!«
Der Chef lachte fröhlich, und im Hintergrund hörte man Jessica kichern.
Nun drohte auch noch unerwünschter Besuch, denn Annette hatte es nicht geschafft, Olga mit dem nötigen
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