Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
einer Respektsperson muß sich dein Schwager am Riemen reißen.«
    Das wollte Annette unter keinen Umständen. Als sie sah, daß sich Achim aufsetzte, machte sie den kleinen Ausguck endgültig zu. »Schluß der Vorstellung! Ich gehe jetzt zu ihm«, sagte sie entschlossen.
    »Warte ruhig noch ab«, sagte Olga, »kleine Jungs müssen nach dem Mittagsschlaf aufs Klo.«
    Doch die nervöse Annette hörte nicht hin, sondern wollte ihre unangenehme Pflicht endlich erledigen.
    »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Olga. »Ich schleiche mich gleich davon, aber vorher trinke ich noch mein Glas aus. Okay?«
    Inzwischen hatte Achim die Decke abgeschüttelt und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich könnte noch stundenlang weiterschlafen«, sagte er, als Annette eintrat.
    Keiner hätte etwas dagegen, dachte sie, lächelte ihm mühsam zu und wählte noch einmal die Nummer von Pauls Büro. Diesmal meldete sich nur der Anrufbeantworter.
    Achim stand auf, streckte sich wie ein buckelnder Kater und verließ in Socken die Stube: »Bin gleich wieder da.«
    Möglicherweise würde er auf dem Flur mit Olga zusammenstoßen.
    Als er zurückkam, ließ er sich wieder auf sein Lager fallen, zog die Beine hoch und wickelte sich ein. »Mir ist kalt, Kleines«, klagte er.
    Ganz sanft legte sie ihm die Hand aufs Knie. »Ich muß dir jetzt etwas sagen«, begann sie. »Es gab durchaus einen Grund, warum wir dich unbedingt erreichen wollten. Du mußt jetzt stark sein!«
    Es schien Annette fast, als bekäme Achim schon im voraus eine Gänsehaut, aber er ekelte sich anscheinend nur vor einer ruhelosen Stubenfliege. »Eure Mutter ist gestorben«, sagte sie und war froh, daß es heraus war.
    »Was redest du da für einen Quatsch«, fuhr er sie an, »das kann überhaupt nicht sein!«
    Die Fliege setzte sich endlich, und Annette hätte sie gern mit dem Gipsarm erschlagen.
    Eine Weile schwiegen beide. »Ich würde nie im Leben so etwas Furchtbares behaupten, wenn es nicht stimmte«, sagte sie schließlich, »damit treibt man keine Scherze.«
    Achims Unterlippe zuckte mehrmals, bis endlich geschah, was kommen mußte: Er streckte die Arme nach ihr aus.
    Es blieb Annette nichts anderes übrig, als den Weinenden an die Brust zu nehmen und hin und her zu wiegen. Was konnte sie Tröstliches vorbringen? Es fiel ihr absolut nichts ein. Aber warum blieb Achim so schweigsam und wollte noch nicht einmal wissen, was überhaupt passiert war?
    Statt dessen schien ihn ein anderes Problem zu beschäftigen. »Wo ist meine Mama jetzt?« sagte er, als Annette die Hoffnung auf ein Gespräch fast aufgegeben hatte.
    Fast hätte sie im gleichen Tonfall geantwortet: Im Himmel, doch so war die Frage wohl nicht gemeint. »Paul wird es dir sagen können«, wich sie aus.
    »Hat sie gelitten?« forschte er weiter.
    Obwohl sie es nicht beurteilen konnte, schüttelte Annette den Kopf. Allmählich fühlte sich ihre Bluse feucht, heiß und klebrig an.
    »Ertrinken soll ein ganz sanfter Tod sein«, sagte Achim.
    In Annettes Kopf begann eine Sirene zu schrillen, und das Wort blieb ihr im Hals stecken. Um ihr plötzliches Zittern zu verbergen, schob sie ihren Schwager von sich und stand auf. »Du brauchst jetzt einen Cognac«, sagte sie und öffnete die weiße Lackvitrine. In diesem Augenblick wäre es Annette lieber gewesen, Olga nicht weggeschickt zu haben. Bis Paul irgendwann eintraf, hätten sie auch zu dritt über Dunstabzugshauben, Familiennamen oder Espressomaschinen plaudern können. Nun mußte sie sehen, wie sie allein mit Achim fertig wurde; tapfer setzte sie sich mit Flasche und Glas wieder hin.
    Achim goß ein, wärmte den Schwenker in der hohlen Hand, schien jedoch mit den Gedanken in weiter Ferne zu sein.
    »Woher weißt du, daß sie ertrunken ist?« fragte sie mit piepsiger Stimme, denn trotz dumpfer Ahnungen erwartete Annette eine plausible Erklärung.
    »Du hast es mir doch gerade selbst erzählt«, sagte er und trank einen Probeschluck.
    »Wirklich?« fragte sie. »Ich bin wohl ziemlich durcheinander. Hab’ ich dir auch gesagt, wo sie starb?«
    »Das war gar nicht nötig, denn ich sah es deutlich vor mir. Mama verehrte eine englische Schriftstellerin, die sich mit steingefüllten Manteltaschen in einen Fluß stürzte. Für Mama lag der Rhein ja fast vor der Haustür!«
    »Virginia Woolf«, murmelte sie und war nur sekundenlang beruhigt. Schnell meldeten sich nämlich Zweifel. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Achim ihre Nachricht zwar abgehört, aber

Weitere Kostenlose Bücher