Rabenbrüder
Nachdruck abzuweisen. Sie wußte kaum, was ihr bei dem kurzen Gespräch unangenehmer aufgestoßen war: Olgas aggressive Kaltschnäuzigkeit oder der abrupte Übergang zur Sentimentalität. Gleichzeitig haderte Annette mit sich selbst; sie hätte klipp und klar sagen sollen, daß sie auf die Liebkosungen einer Giftnatter nicht besonders scharf war. Außerdem haßte sie es, wenn Frauen Solidarität heuchelten, aber schon beim nächsten attraktiven Kerl eine Kehrtwendung machten. Sollte sie die falsche Schlange mit gezückter Klobürste empfangen? Den rechten Arm nicht übermäßig belasten, hatte der Arzt empfohlen. Trotzdem wollte sie noch ein wenig aufräumen, um ihre schlampige Rivalin mit einem mustergültigen Haushalt zu beschämen. Allerdings durfte es nicht nach Absicht aussehen, schon ein Hauch von Spießigkeit und Pedanterie wäre Grund für Olgas Häme. Also nahm Annette die Zeitung nachträglich wieder aus dem Papierkorb und legte sie auf den Couchtisch, stellte zwar die leere Müslischale in die Spülmaschine, aber deponierte zwei grüne Äpfel wie zufällig auf dem weißen Bücherbord, zog ihre polternden Clogs aus und die chinesischen Pantöffelchen an. Als ob ich einen Liebhaber erwartete, dachte sie grimmig.
Gerade versuchte Annette, noch rasch einen abgebrochenen Fingernagel zu glätten, als es schon schellte. Die Feile, die sie sich zwischen die Knie geklemmt hatte, flog zu Boden. War Olga auch geflogen?
Mit zierlichen Schrittchen trippelte sie zur Tür. Vor ihr stand Achim. »Gott sei Dank!« sagte sie sichtbar erleichtert, und ihr Schwager strahlte.
»Das ist aber eine liebe Begrüßung, Kleines!« meinte er und umarmte sie.
Annette war verwirrt, denn sie hatte etwas anderes sagen wollen. »Gott sei Dank, daß du endlich auftauchst«, vervollständigte sie ihren Satz und stockte sofort. Sie konnte ja nicht einfach zwischen Tür und Angel fortfahren: deine Mutter ist nämlich gestorben.
»Komm doch erst mal rein«, sagte sie statt dessen und dirigierte ihn ins Wohnzimmer, »ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen. Hast du deine Mobilbox nicht abgehört?«
»Leider wurde mein Handy geklaut«, sagte Achim und warf seine Jacke aufs Sofa. »Gibt es was Besonderes?«
Annette zauderte. Im Grunde war es Pauls Sache, seinem Bruder die Todesnachricht zu überbringen. Vorerst reagierte sie lieber nicht auf seine Frage, sondern meinte: »Ich ruf mal in der Kanzlei an, damit Paul schleunigst heimkommt. Übrigens war es eine umwerfend nette Idee von dir, uns eine Überraschung ins Auto zu schmuggeln. Du ahnst nicht, wie ich mich gefreut habe! Apropos -möchtest du etwas trinken?«
»Den Tee werde ich machen«, sagte er, »mit zwei Hän-den geht es ein bißchen fixer.« Er begab sich in die Küche, wo er sich ja auskannte.
Unterdessen wählte Annette Pauls Büronummer. Seine Schreibdame wollte gerade ihren Arbeitsplatz verlassen und gab an, Herr Wilhelms sei mit einem Klienten essen gegangen. Wann er zurück sei, habe er nicht gesagt und auch das Handy nicht mitgenommen. Gehorsam legte sie einen Zettel auf den Schreibtisch ihres Chefs: Dringend! Sofort bei Ihrer Frau anrufen!
Das konnte ja heiter werden, fand Annette und spürte fast körperlich, wie Achim ihr aufgeräumtes Interieur wieder in Unordnung brachte. Gegen gewisse Unarten war sie inzwischen fast allergisch. »Einer wie der andere«, brummte sie und angelte sich Achims hingeschmissene Lederjacke. Ein tastender Griff in die linke Tasche bestätigte einen latenten Verdacht: ein Handy. Ob es das angeblich gestohlene Gerät oder ein neu gekauftes war, vermochte sie allerdings nicht festzustellen. Aber auch in der rechten Jackentasche fühlte sie einen kompakten Brocken. Annette kannte dieses Ding bereits - es war der Elektroschocker aus dem Badezimmer ihrer Schwiegereltern. Leicht beunruhigt schob sie beide Gegenstände wieder in die Taschen zurück und ließ die Jacke liegen, wo sie war.
Sie fühlte sich unbehaglich. Was sollte sie machen, wenn Olga in diese heikle Situation hineinplatzte? Jeder einsichtige Mensch würde sich wegschicken lassen, aber war Olga jemals vernünftig gewesen?
Löwenmäulchen
Noch mit vollem Mund schnitt Markus sein Lieblingsthema wieder an. »Es wird ein Mädchen«, sagte er, »aber leider sind wir uns noch nicht einig, wie es heißen soll. Krystyna plädiert für Lisa oder Mira, ich bin eher für Julia. Was meinst du?«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich andere Sorgen. Vor wenigen Tagen
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