Rabenflüstern (German Edition)
entgegenstemmten, aber auch Landschaften, Täler und Seen, ganze Königreiche in Blüte, andere verfallen und in Trümmern liegend. Ein Rabe mit weißem Gefieder hockte auf einem Stalagmiten und sperrte geräuschlos seinen Schnabel auf. Unter dem Bild glühte eines der zahlreich am Boden verteilten Kohlebecken, die jedoch kaum Helligkeit oder Wärme spendeten.
Allmählich gewann der Krieger seine Fassung zurück. Was hatte er schon zu verlieren? In breitbeiniger Pose baute er sich vor den Schicksalsgöttinnen auf. Vertieft in ihre Spinnerei, hoben sie weder den Blick noch gaben sie sonst wie zu verstehen, seine Anwesenheit bemerkt zu haben. Kraeh rief sich die warnenden Worte seines Trinkkumpans ins Gedächtnis und harrte schweigsam eine geraume Weile unbeachtet aus.
Sie spannen und spannen, ihre Antlitze verdeckt, nur gelegentlich, wenn sich eine leicht nach vorne beugte, war eine spitze Nase auszumachen. Kraeh wurde unruhig. Wie viele Sandkörner mochten wohl noch in der oberen Hälfte des Stundenglases verblieben sein? Dem Krieger kam ein Gedanke, so kühn, dass er über sich selbst erschrak. Er hatte ihn allerdings noch nicht zu Ende gedacht, da sang eine der drei Nornen honigsüß:
Morgentau
Im Wintergrau;
Schmerz und Leid
Griffbereit.
Dann war wieder Ruhe, bis die zweite leise zu greinen anfing. Ihre Stimme hatte etwas Irres an sich. Klagend führte sie den Singsang ihrer Schwester fort:
Rabenschnabel,
Bärenfabel,
Krähenfuß und
Eulengruß.
Kurz konnte Kraeh wieder eine lange spitze Nase sehen, dann nahm die Letzte die Melodie auf. In dem Krieger stieg ein Gefühl von Scham auf; als hätte seine Mutter, die er nicht kannte, ihn beim Stehlen ertappt. Die Frau keifte böse:
Noch nie geschah
So undankbar
Diebeslust an
Lebensbrust
Der Krieger verspürte den unbändigen Drang, davonzulaufen und diese verrückten Frauen einfach hocken zu lassen, wo sie waren. Ihre unheimliche Macht schnürte ihm die Kehle zusammen, seine Zunge klebte ihm am ausgetrockneten Gaumen. Schweiß trat ihm auf die Stirn und seine Knie zitterten. Er glaubte schon das Gleichgewicht zu verlieren, als seine Augen plötzlich etwas auf dem Boden liegen sahen. Zuvor war es ihm nicht aufgefallen: ein Stein von der Größe eines Wachteleis. Unvermittelt, so schien es, war er an einem schlichten, brüchig gewordenen Lederband befestigt, aufgetaucht. Kraeh wusste mit absoluter Gewissheit, es war der Lia Fail. Während er seine Entdeckung betrachtete, intonierten die Nornen gemeinsam ein neues sonderbares Lied. – Ein Rätsel, so rätselhaft wie das Wesen der drei Matronen selbst.
Was ist Freud’,
Was ist Weh’,
Tier und Fels,
Mensch auch Klee?
Nacht und Tag,
Wind am See,
Wüst’ und Schnee,
Kind gar Fee?
Sie spannen und sangen. Auf eine Strophe folgte flugs die nächste. Ihr Lied kannte kein Ende und Kraehs Zeit lief ab. Er überlegte kurz, dann entschied er sich, sie zu unterbrechen.
Seine Stimme klang rau, als er schließlich sagte: »Das Leben ist nichts als geboren werden, sterben und die Spanne dazwischen.« Der Gesang endete abrupt. Auch jetzt sahen sie nicht auf. Keine Silbe ertönte mehr und der Krieger hütete sich ebenfalls, noch etwas zu sagen, indes er den Stein kurzerhand an sich nahm. Rückwärtsgehend entfernte er sich. Fast war er wieder um die Ecke gebogen, da ließ eine von ihrem Handwerk ab. Ihrer greisen Gestik nach schien es sich um die Älteste der drei handeln, deren anfängliche Verse so vorwurfsvoll geklungen hatten. In senil abgehackten, jedoch pfeilgeschwinden Bewegungen kam sie auf ihn zu. Er wankte, stolperte zurück, bis ihn eine feuchte Wand vor dem Sturz bewahrte. Schon war sie bei ihm und ihre Hände packten seine Schläfen. Kalt und schmerzhaft hart fühlte sich ihre Berührung an.
Träger nun von großer Last,
den Preis du noch zu zahlen hast.
Ihre Daumen quetschten seine Kopfhaut. Sie hob ihr verschleiertes Haupt. Pupillenlose Augen trafen ihn wie ein Dolchstoß. Er wollte sich dagegen wehren, doch sie zwang ihn, sich in ihrem Blick zu verlieren. Eine Vision drängte sich in seinen Geist; machtlos ergab er sich den deutlicher werdenden Bildern. Ihr Griff war unerbittlich und mitleidlos, gleich dem, was sie ihn nötigte zu sehen. Zuerst waren die Manifestationen verzerrt und ohne Zusammenhang, dann schaute er plötzlich in einer fernen Zukunft aus seinen eigenen Augen und … wurde Zeuge seines Todes – eines unerfreulichen und
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