Rabenflüstern (German Edition)
trafen sie auf Orthan, der eine gesonderte Unterkunft bewohnte. Von einem Trupp Kriegerinnen geleitet, fanden sie sich nach einigen Biegungen und Treppen schließlich im Zentrum der Festungsanlage an dem offenen Eingang zu dem dreieckigen Innenhof ein. Sie traten durch den Torbogen und erblickten allerhand Volk versammelt. Die weit über ihnen aufragenden Zinnen waren voll besetzt. Der Mittelpunkt des geschäftigen Treibens war ein inmitten des dubiosen Steinkreises über Nacht aufgestellter Pavillon. »Kommt!«, rief Lou ihnen zu, die neben ihrer Herrin unter einem tüchernen Dach stand.
Eine Drude in besonders strahlendem Rüstzeug schnitt ihnen den Weg ab. In ihren Armen hielt sie ein schweres Bündel, das sie ihnen forsch vor die Füße warf. »Die Königin möchte nicht, dass ihr wie Strauchdiebe ausseht, wenn ihr dem Feind entgegentretet.«
Die Krieger beugten sich vor und zwinkerten sich spitzbübisch zu, als sie ihre Waffengurte anlegten. »Enthaltet euch missverständlicher Bewegungen«, wisperte Orthan ihnen zu und deutete dabei auf einige gespannte Bögen, die zweifellos für sie bestimmt waren. »Dass du hier bist, Sedain, verdankst du allein mir. Ich habe mich für dich verbürgt, also benimm dich anständig.« Erfreut über seine eigene Listigkeit sprach er weiter: »Ich habe einfach gesagt, du seist einer der gefürchtetsten Kämpfer in Brisak und dass du …« Doch Sedain hörte nicht zu, enthielt sich demgemäß einer Antwort und ging schnurstracks in Richtung der Wartenden. Die anderen beiden eilten voran, um mit ihm Schritt zu halten.
»Morgen«, begrüßte er bewusst nachlässig die umstehenden Würdenträgerinnen. Orthan überging ihn geschwind und gab Anweisungen, wo sie sich aufzustellen hatten, ergänzt durch knappe, gebieterische Worte der Königin. Sie schien keine Priesterinnen zu haben. Allem Anschein nach hatte sie auch dieses Amt inne.
Indes Orthan, sie umrundend, segnend von Stein zu Stein ging, erläuterte Erkentrud die Regeln des Treffens. »Nach einem kurzen Unwohlsein werdet ihr euch auf einem neutralen Boden wiederfinden. Weder der Ort noch ihr seid real, vergesst das nicht.« Sie redete zu allen dreien, Lou eingeschlossen. »Eure Waffen sind rein symbolhafter Natur, ihr könnt weder die euren benutzen noch droht euch Leid von anderen.« Nach einem Seitenblick auf den zähneknirschenden Sedain fügte sie hinzu: »Vergesst sie am besten ganz. Das Übrige wird sich ergeben …«
Schließlich kam auch der Magier hinzu, postierte sich neben den anderen und forderte sie auf, sich an den Händen zu halten. »Bereit?«, fragte er merklich angespannt.
»Nicht ganz«, unterbrach Kraeh hastig. Erkentruds Miene verfinsterte sich. Der Krieger sah erst sie, dann Lou an. »Nehmt als vorläufiges Zeichen meiner Entschuldigung ein Geschenk an.« Betont langsam griff er über die Schulter. Der Zeigefinger der Königin hieß die Schützinnen, die schon gespannten Bogen wieder zu senken. Die Rune am Heft von Pian Anam flammte auf, als das Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Ehrfürchtig reichte er Lou die kostbare Klinge. Sie nahm sie an und tauschte sie mit der ihren, die sie vor sich in den Boden stieß.
»Falls ich scheitere, sollt ihr nicht schutzlos sein«, sagte der Krieger, selbst überrascht von seinem Tun.
»Erkenheim war niemals ohne Schutz«, äußerte die Königin kühl, aber Kraeh glaubte, den Anflug eines Lächelns in ihren Zügen bemerkt zu haben. Orthan hingegen machte keinen Hehl daraus, wie sehr er die Geste schätzte. Da Lou den weltlichen Arm der Königin darstellte, war es in der Tat ein gelungenes Geschenk ebenso an sie wie auch an die Königin.
Wohlwollend nickte der Magier Kraeh zu, bevor er seine Frage wiederholte. »Bereit?«, fragte er alle Anwesenden zum zweiten Mal.
Sie fassten sich an den Händen.
Auf der Stelle setzte Schwindel ein. Sie hatten das Gefühl, von den Beinen gerissen und durch die Luft geschleudert zu werden. Qualvoller Druck presste ihre Köpfe in sich zusammen, der einen Atemzug später wieder nachließ. Mit Übelkeit im Magen fanden sie sich jäh auf einer von Eichen umstandenen Anhöhe wieder. Sterne, Mond und Sonne prangten gleichzeitig an einem widernatürlich grellen Himmel. Vögel zwitscherten, das Gras unter ihnen wirkte feucht und saftig, die Übelkeit verflog.
Sie waren nicht allein. Zahlreiche Herrscher waren mit ihren Beratern, Zauberern und ersten Kriegern gekommen, allesamt in ihren prächtigsten
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