Rabenflüstern (German Edition)
Gehörnte bleibt zwei Ausfallschritte vor Kraeh stehen, auf dem Rücken trägt er ein unförmiges Bündel, das andere Wesen macht es ihm gleich. Er erkennt jetzt, dass die halb menschlich, halb tierische Kreatur getanzt hatte, denn auch jetzt lupft sie gelegentlich einen Huf.
Sie setzt eine dünne Flöte ab und schüttelt den Kopf, dass die gebogenen Hörner die Luft zerschneiden. Dabei stößt sie ein grotesk klingendes Wiehern aus. »Der furchtlose Kraeh«, sagt sie. Ihre Stimme erinnert an das Aneinanderreiben von Tannenzapfen. »Am Anfang seiner langen Reise besucht er uns. Schön, schön«, fährt sie fort. Dann tippt sie sich mit dem Zeigefinger auf die borkige Nase.
»Wer seid ihr?«, fragt Kraeh und merkt, wie schwer ihm das Sprechen fällt.
Der Bocksbeinige bleckt die Zähne und lässt sie knirschend aufeinanderreiben. »Ja, das Wort. Es wäre besser, die Menschen hätten nie sprechen gelernt. Buchstaben – und daraus bestehen Wörter und Sätze – begrenzen die Gedanken«, wies er den Krieger zurecht.
»Ich bin das, was Gläubige einen Engel nennen würden. Ein Gesandter des wahren Gottes, der neben sich keine anderen Namen zulässt«, lenkt nun das andere Wesen versöhnlich ein. Beim Sprechen bewegt es kaum die Lippen. Wie eine Klinge durch Wasser schneidet, fegt sein Diktum durch den Geist des Kriegers.
»Wir sind ein Pan«, wirft der Bocksbeinige schnell mit einem strengen Seitenblick auf seinen Gefährten ein.
»Seid ihr beide Diener jenes Gottes?«, will Kraeh wissen.
Die Flöte nervös zwischen den Fingern wirbelnd, spricht der Pan ungehalten: »Wir dienen niemandem.«
»Man dient uns«, fügt der Engel hinzu. »Doch unsre Zeit ist knapp.«
»Stimmt, stimmt«, fällt der Pan ihm ins Wort. »Wir müssen fertig sein, ehe ER kommt. Außerdem«, er zeigt so etwas wie ein Lächeln, »haben wir Geschenke.«
Die Lichtgestalt erhebt die rechte Hand – eine Gebärde voll Anmut und Macht –, beugt den Oberkörper ein wenig nach vorne und flüstert in ihrem hellen, schneidenden Ton. Instinktiv weiß Kraeh, dass das, was sie sagt, nur von ihm gehört werden kann.
»Wenn du das Auge hast, bringst du es mir. Meine Natur ist der Lüge nicht fähig. Ich verspreche dir, damit rettest du dich, jene, die dir teuer sind, und die ganze Welt vor großem Unheil, einer Ära der Finsternis. Bedenke wohl, für welche Seite du dich entscheidest.«
Kraehs Kopf fühlt sich an, als müsse er zerbersten; er nickt in der Hoffnung, der Engel möge seinen Geist in Frieden lassen.
»Fertig?«, heischt der Pan, teils gelangweilt, teils ungeduldig.
Ohne eine Antwort abzuwarten, lädt er das Bündel von seinem Rücken. Fürsorglich legt er die Frau, die Gorkas Gefangene war, vor seinen Hufen ab. »In Zukunft solltest du sie besser behandeln«, wispert er. »Was hast du nur gemacht, dass dir die liebe Lou nach dem Leben trachtet?« Die Frau ist offensichtlich bewusstlos, einem schlafenden Kind gleich liegt sie zusammengerollt da. Um ihren linken Arm windet sich eine Kreuzotter. »Husch!«, macht der Pan und die Schlange stellt den Kopf auf, zischelt einmal mit ihrer gespaltenen Zunge und kriecht dann in Wellenbewegungen ins Unterholz.
»Sie ist eine Tochter Erkentruds, von der auch das andere Geschenk stammt.«
Der Krieger wird trotz seiner misslichen Lage ärgerlich. »Noch so ein tolles Geschenk, das schon mir gehört und zu nichts nütze ist, außer mir in den Rücken zu fallen? Und wer ist überhaupt diese Erken…«
»Genug!«, fährt der Pan ihm über den Mund. Er ballt die Faust, öffnet sie aber gleich wieder, als würde er sich auf das enge Zeitfenster besinnen. Alle Hast und Spielerei fällt von ihm ab. In stolzer Erhabenheit greift er noch einmal hinter sich und befördert eine lange, ebenhölzerne Schatulle hervor. Eine Scheide, wie Kraeh sie noch nie gesehen hat. Aus ihr ragen die Griffe zweier Schwerter. Einer am oberen, einer am unteren Ende. Matt schimmert Elfenbein unter den kreisrunden Parierstangen. Sich vorbeugend, reicht der Pan sie dem Krieger. Mit letzter Kraft schließen sich seine Hände um das edle Holz und fallen, von dem Gewicht nach unten gezogen, herab. »Pian Anam und Lidunggrimm. Schmerz und Leid . Geschmiedet zu Anbeginn der Zeit, da Götter und Dämonen die Erde besiedelten«, erinnert der Überbringer sich ehrfürchtig.
Bestürzt starrt der Engel auf die schreckliche Gabe.
Ein Luftzug bringt den Dunst zum Wabern. Ein Summen, als würde eine
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