Rabenherz & Elsternseele
kleinlaut. »Aber Oma hat garantiert noch Marmelade im Keller.«
»Na ja. Besser als nichts.«
Jori hielt sich am Geländer fest, hopste auf einem Bein hinter mir die Treppe hinunter und dann in die Küche. Ich schob ein Blech mit Brötchen in den Ofen, stellte den Wasserkessel auf den Herd und ging in den Keller. »Lebensgefährlich, diese steile Kellertreppe. So darf eine alte Frau gar nicht mehr wohnen«, hatte Papa gesagt. Aber Oma flitzte normalerweise diese olle Stiege geschickter rauf und runter als ich.
In den Vorratsregalen standen jede Menge Marmeladengläser, darunter bestimmt dreißig von meiner Lieblingssorte Kirschvanille, die sie nur für mich einkochte. Mama und Papa machten sich nichts aus selbstgemachten Sachen.
Ich nahm das erste Glas, das mir in die Finger kam, und wollte schon wieder gehen, als ich hinter der Marmelade eine graue Schachtel sah, die sonst nicht dort stand. Es dauerte eine Weile, bis ich die Gläser beiseitegeräumt hatte, sodass ich sie herausnehmen konnte. Oben fing der Kessel an zu pfeifen, und Jori rief mit saurer Stimme: »Piiia! Wie lange dauert das denn?«
Trotzdem warf ich erst einmal einen Blick in die Schachtel. Ein Zettel lag obenauf.
Meine liebe Pia!
Für den Fall, dass ich dir dies nicht selbst geben kann: Denk daran, dass in jedem Märchen ein Körnchen Wahrheit steckt.
Der Kessel pfiff nicht mehr. Ich hörte Jori durch die Küche hopsen. Danke, Oma, aber das habe ich selbst gerade schon herausgefunden, dachte ich.
Jori deckte mit einer Hand den Tisch, während sie sich mit der anderen daran festhielt. Sie hatte uns Früchtetee aufgegossen, die Küche duftete danach. »Mann, wie groß ist denn der Keller? Ich wäre echt froh, wenn ich nicht dauernd herumhüpfen müsste, weißt du? Das tut weh«, maulte sie mich an.
Ich stellte meine Beute zwischen den Tellern und Tassen ab und ließ mich auf einen Stuhl fallen. »Dann setz dich halt. Ich hab was gefunden.«
Mit einer Mischung aus Neugier und Traurigkeit nahm ich zwei Notizbücher aus der Schachtel, die abwechselnd mit der Handschrift meiner Oma und der meines Vaters gefüllt waren. Im zweiten war es nur noch die meiner Oma, und es war nur halb voll geschrieben.
»
Die Legende von Tatanwi, dem Vogelmenschen
«, stand als Überschrift auf der ersten Seite.
Joris Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Hol die Brötchen aus dem Ofen, und dann lesen wir das«, befahl sie.
Nur weil sie genauso gespannt wirkte wie ich, verzieh ich ihr ihren Tonfall. Ich konnte es eigentlich nicht leiden, herumkommandiert zu werden.
Als ich die Brötchen und das restliche Frühstückszubehör auf den Tisch stellte, blätterte sie schon in den Notizbüchern. »Wer ist Leander?«
»Mein Vater. Gib her, ich lese vor.«
Den ersten Teil der Geschichte hatte Oma aufgeschrieben. Ihre Handschrift war kleiner und kritzeliger als Leanders.
Einst waren zwei Brüder in den Wald gegangen, um Vogelnester auszunehmen. Der ältere Bruder Kotanwi war eifersüchtig auf den jüngeren,
weil dieser der hübschere und geschicktere war und alle ihn lieber hatten. Deshalb wollte Kotanwi ihn gern im Wald für immer loswerden.
An einem hohen, alten Baum, in dessen Wipfel die Falken ihren Horst hatten, begannen sie eine Leiter zu bauen. Kotanwi befahl Tatanwi oben
zu stehen und die neuen Leitersprossen einzuflechten, die er ihm heraufbrachte. Tatanwi tat, was sein Bruder wollte, und erreichte schließlich
den Falkenhorst, in dem zwei Jungvögel saßen, die ihm hungrig entgegenschrien.
Sobald Kotanwi sah, dass Tatanwi ins Nest gestiegen war, kletterte
er die Leiter herab und zerstörte sie hinter sich. Er lief nach Hause und
behauptete, sein Bruder sei davongelaufen.
Tatanwi saß inzwischen mit den beiden Küken im Nest und hatte große Angst vor dem Moment, wo Vater und Mutter Falke heimkommen und ihn finden würden. Gleichzeitig taten ihm aber die jungen Vögel leid, die vor Hunger immer lauter schrien und ihre Schnäbel aufsperrten. Schließlich kaute Tatanwi den getrockneten Fisch durch, den er als Verpflegung mitgenommen hatte, und gab ihn den beiden.
Als Vater und Mutter Falke mit Kaninchen in ihren Fängen
ankamen, verdunkelten ihre Flügel den Himmel. Tatanwi duckte sich
vor ihrem Zorn zwischen die Küken, doch es geschah nicht, was er erwartet hatte.
»Tatanwi, du sitzt in unserem Horst und hast unseren Sohn und unsere Tochter gefüttert. Heißt das, du willst einer von uns sein?«, fragte Mutter Falke ihn.
Zuerst wollte Tatanwi nur schnell »Ja«
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