Rabenherz & Elsternseele
herverwandeln wie du willst?«, fragte ich.
Wieder schnaubte sie verächtlich, das konnte sie wirklich gut. »Blödsinn.«
Und dann erfuhr ich von ihr zum ersten Mal etwas über das Leben der Vogelmenschen. Bald sah ich viele märchenhafte Geschichten, die ich schon von Oma kannte, in einem neuen Licht. Von »Kalif Storch« über »Die sieben Raben« bis zu »Jorinde und Joringel«.
Jori und ihre Mutter konnten sich nicht in Vögel verwandeln, wann sie es wollten. Im Gegenteil: Wie ein Fluch geschah es ihnen etwa jeden Mondmonat ein Mal. Kaum anders als bei Werwölfen, nur geschah es nicht unbedingt bei Vollmond.
Zwei Tage und zwei Nächte dauerte es, dann verwandelten sie sich zurück. Jori sagte, ihre Mutter hätte gelernt, die Rückverwandlung länger hinauszuzögern, wenn es ihr besser passte. Doch das schien schwierig und nicht ungefährlich zu sein. Jori selbst war es lieber, wenn es so schnell wie möglich vorbeiging. Es nervte sie, sich verstecken zu müssen. Außerdem hatte sie schon mehrere Male furchtbare Dinge bei ihren Rückverwandlungen erlebt. Einmal hatte sie einen übergroßen Flügel statt eines Arms zurückbehalten und eine Woche lang nicht in die Schule gekonnt. Sie meinte, es hätte sogar noch Schlimmeres gegeben, aber das wollte sie nicht erzählen. Sie hoffte darauf, dass diese Dinge nicht mehr geschehen würden, wenn sie älter wurde, so wie es auch bei ihrer Mutter gewesen war.
Ich war so gefesselt von der Geschichte, dass es mir erst zum Schluss einfiel zu fragen, was für eine Art Vögel sie denn wurden. Sie reckte stolz das Kinn in die Höhe und legte den Kopf etwas schief. »Habichte.«
Bei allem Mitgefühl war ihre eingebildete Art unerträglich. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass mich ein Schauder überlief. Jedenfalls konnte ich sie von dem Moment an noch ein Stück weniger leiden. Aber Hilfe brauchte sie, das war klar. Ich zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf die Uhr. Höchste Zeit, dass ich nach Hause fuhr. »Also gut. Vielleicht hilft es dir ja, wenn du eine Nacht ruhig schläfst. Du musst keine Angst haben, dass dich hier jemand außer mir entdeckt. Ich komme morgen früh wieder und bringe dir etwas Richtiges zu essen mit. Dann sehen wir weiter. Oder vermisst dich jemand?«
Sie schüttelte den Kopf. »Woher weiß ich, dass du mich nicht verrätst?«
Eigentlich war ihre Sorge ja angebracht, aber sie fragte so verächtlich, als hätte ich sie schon verraten, und das ärgerte mich. »Ich habe es versprochen, oder nicht?«, erwiderte ich pampig.
Am Sonntagmorgen schliefen Mama und Papa immer lange. Ich legte ihnen einen Zettel mit einer Notlüge hin und fuhr zu Omas Haus. Im Rucksack hatte ich eine Tüte Aufbackbrötchen, Butter und Käse. Die gekochten Eier hatte ich lieber im Kühlschrank gelassen, weil ich dachte, es wäre ein bisschen geschmacklos, einem Vogelmenschen Eier anzubieten.
Halb glaubte ich, dass Jori verschwunden sein würde, aber sie war in Omas Schlafzimmer. Das gefiel mir nicht, aber ich wollte keinen Streit mit ihr und verkniff mir die Bemerkung. Jori stand noch immer auf nur einem Fuß.
»Merkwürdigen Geschmack hat deine Oma.« Sie zeigte auf die Wand neben dem Fenster, an der eine Sammlung von altem Zeug hing: indianischer Federschmuck, ein altes Nest von Webervögeln, eine prunkvolle antike Falknertasche mit dem dazugehörigen Handschuh, auf dem die Greifvögel getragen werden konnten, und mit einer Haube, die ihnen über den Kopf gezogen wurde, damit sie sich weniger aufregten. Oma hatte wirklich viel Ahnung von allem, was mit Vögeln zu tun hatte. Kein Wunder, dass ein Vogelmensch sich an sie wenden wollte, wenn er Probleme hatte.
Omas Knotenarmband fiel mir wieder ein. Es lag tatsächlich auf ihrem Nachttisch, vor dem letzten Foto, auf dem mein Vater mit mir zusammen zu sehen war. Er hatte mich auf dem Arm und zeigte auf die Kamera. Da ist das Vögelchen, Pia! Oder so.
Das Armband war heil. Warum hatte Oma es abgelegt? Hatte es sie plötzlich gestört? Ich seufzte. »Glaubst du, es hängt irgendwie zusammen, dass sie beide fort sind – deine Mutter und meine Oma?«
»Wir sollten noch einmal das ganze Haus absuchen. Wahrscheinlich gibt es etwas, was ihr übersehen habt.«
»Das ist sinnlos. Es ist alles wie immer. Lass uns lieber frühstücken und in Ruhe überlegen.«
Joris Kopf fuhr mit einem seltsamen kleinen Ruck zu mir herum. »Schinken? Lachs? Speck? Eier?«
»Ääh … Brötchen und Käse«, sagte ich
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