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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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und sonst gar nichts. Mir war nicht einmal klar, ob ich Omas Haus jemals wieder betreten wollte, wenn es sie nicht mehr gab. Als wir nach ihr gesucht hatten, war ich mit Mama und Papa dort gewesen, um einen Hinweis darauf zu finden, wo sie sein konnte. Ich war mir vorgekommen wie ein Eindringling, der unerlaubt in privaten Dingen stöbert. Es hatte auch nicht geholfen zu wissen, dass Oma es mir wahrscheinlich erlaubt hätte, wenn sie da gewesen wäre. Dabei war ich bei ihr immer genauso zu Hause gewesen wie hier.
    Mama streichelte mir über die Haare. »Ich wollte nur, dass du es weißt. Sag mal, wäre es dir vielleicht doch lieber, wenn Papa und ich heute Abend hierblieben? Oder einer von uns?«
    »Ist nicht nötig.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich.«
    Eine halbe Stunde später waren die beiden in ihrer festlichen Abendgarderobe aus der Haustür geschwebt, um sich ein Jazzkonzert anzuhören. Die plötzliche Stille im Haus machte mich noch trauriger. Ich versuchte ein paar Ablenkungsmanöver – Fernsehen, Lesen, Computerspielen, aber nichts half. Ich musste die ganze Zeit an Oma denken.
    Der Zweitschlüssel zu ihrem Haus hing in unserem Schlüsselkasten. Mein Haus. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Aber dann fiel mir ein, dass nun seit drei Tagen niemand mehr dort gewesen war. Niemand hatte die Blumen gegossen. Und was, wenn Oma doch noch einmal wiedergekommen war und uns eine Nachricht hinterlassen hatte?
    Es war erst Viertel vor sieben und würde noch stundenlang hell bleiben. Bevor ich den Mut verlieren konnte, rannte ich schon zum Fahrradschuppen. Die Nachbarskatze floh erschrocken über den Zaun, und zwei Elstern flatterten laut keckernd hoch in die Kastanie. Bei einem Blick zum Himmel kamen mir doch leise Bedenken, ob ich fahren sollte, denn da hingen dunkle Gewitterwolken. Aber ich brauchte mit dem Rad nur eine Viertelstunde zu Omas Haus, halb so lange wie Mama. Was daran lag, dass ich seit meinem zwölften Geburtstag ein rotes Ghostrider MB fuhr, das coolste Rad der Welt. Oder wenigstens meiner Schule.
    Eine merkwürdige Mischung aus Sonnenstrahlen und Gewitterwolken tauchte unseren Ort und die nahen Berge in ein geisterhaftes Licht. Vom Rathausplatz aus konnte ich oben im Gebirge Burg Falkenstein sehen. Das alte Gemäuer schien vor dem dunklen Himmel weiß zu leuchten.
    Doch als ich durch Omas Gartenpforte trat, hatte es ein Ende mit dem Leuchten. Wolken verdeckten die Sonne, es wurde allmählich so dunkel wie an einem Winterabend, und Wind kam auf. Auch in Omas Garten keckerten Elstern, als ich mein Rad gegen die Rückwand des Hauses lehnte. Sie saßen im Birnbaum und beobachteten mich. Ich sah ihre schlauen Augen glitzern und stellte mir vor, was sie wohl dachten. Oma hatte sie wahrscheinlich immer gefüttert, sie hatte eine Schwäche für alle Arten von Vögeln.
    Es kostete mich Überwindung, durch den Garten zu gehen, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Dabei konnte ich selbst nicht fassen, dass mir auf einmal ein Ort unheimlich war, an dem ich so viel Zeit verbracht hatte.
    Omas Garten war riesig und abenteuerlich. Das hintere Drittel lag einen Meter tiefer und war durch einen steilen Felsabhang vom Rest getrennt. Aus dem Hang entsprang eine Quelle. Ihr Wasser wurde zu einem kleinen Bach, der sich zwischen hohen alten Bäumen hindurchschlängelte, bis er an der Grundstücksgrenze unter dem Zaun verschwand. Neben der Quelle war eine Treppe in den Fels gehauen, auf der Moos wuchs. Der Garten war der beste Ort zum Spielen, den man sich vorstellen konnte. Doch an diesem Tag erschien er mir düster, und ich beeilte mich, meine Runde zu beenden und wieder zum Haus zu gelangen. Von Oma hatte es auch diesmal im Garten keine Spur gegeben.
    Die Elstern waren mir auf meinem Weg gefolgt, wohl in der Hoffnung, dass ich vielleicht doch Futter für sie hätte. Wenn ihr doch reden könntet, dachte ich. Vielleicht hatten sie gesehen, was mit Oma geschehen war.
    Die Haustür aufzuschließen und hineinzugehen war ebenso gruselig wie durch den Garten zu laufen. Vielleicht lag es auch daran, dass es inzwischen noch dunkler geworden war. Ich schloss die Tür hinter mir, hob die Post auf, die sich hinter dem Briefschlitz auf dem Boden angehäuft hatte, und legte sie auf den kleinen Schuhschrank im Flur.
    Im Wohnzimmer sah alles genauso aus wie beim letzten Mal, als ich hier gewesen war. Aufgeräumt und einsam. Die bunten indischen Kissen hatte Mama ordentlich auf den beiden Sofas platziert, die Decken mit den Vogelmustern

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