Rabenherz & Elsternseele
mitbrachte. Doch als wir um die Mittagszeit mit meinem und Omas Fahrrädern bei mir zu Hause ankamen, lag nur ein Zettel für mich da: »Pia, du hast schon wieder dein Handy nicht mitgenommen! Papa und ich sind bei Herbolds. Ruf an, wenn was ist.«
Ich hatte mit Jori besprochen, dass sie in meinem Zimmer warten konnte, während ich hoch zur Burg fuhr und einen ersten Blick auf den Falkner und seine Vögel warf. Sie beschrieb mir, wie ihre Mutter als Habicht aussah. Ich hatte allerdings trotzdem wenig Hoffnung, dass ich sie erkennen würde. Für mich sahen die meisten Vögel einer Art gleich aus. Sogar bei den schwarz-weißen Elstern mit ihren auffälligen Flecken hatte ich nie einen Unterschied feststellen können.
Doch ich brach nicht sofort auf, sondern saß noch eine Weile mit Jori unten in unserem Esszimmer. Wir aßen aufgewärmte Nudeln zum Mittag, als es an der Tür klingelte.
Ich lugte durch den Türspion, und mir blieb fast das Herz stehen. Draußen standen Stefan, den ich aus dem Sportverein kannte, und sein Freund Henrik, in den ich seit einem halben Jahr heimlich verliebt war.
Weiß der Teufel, was in Joris Kopf vorging, aber ich hatte noch nicht »Hallo« zu den Jungen gesagt, da stand sie auf einmal hinter mir. »Hallo«, sagten wir gleichzeitig.
Es kam, wie es kommen musste. Während Stefan mir etwas von einer Party erzählte, zu der er mich einlud, grinste Henrik die ganze Zeit die entzückende Jori an, als hätte er einen harten Ball gegen die Stirn bekommen. Sie tat, als würde sie es nicht bemerken, aber auf eine Art, bei der klar war, dass sie es sehr wohl bemerkte und außerdem genoss.
Allmählich kam ich zu der Überzeugung, dass ich ihr schon deshalb helfen musste, damit ich sie so schnell wie möglich wieder loswurde. Noch klarer wurde mir das, als ich ihr mein Zimmer zeigte.
Oma und ich waren uns in einigen Dingen ziemlich ähnlich. Ich mochte zum Beispiel hübsche glitzernde Dinge ebenso gern wie sie. Und so sah es bei mir auch aus. Meine Edelsteinsammlung, Glaskristalle, Leuchtsterne, Glasperlenschmuck, glänzende Perlentierchen und Sachen aus Spiegelmosaik machten mein Reich für mich zur Schatzhöhle.
»Ach du liebe Güte«, waren Joris erste abfällige Worte, als sie eintrat. Mehr musste sie gar nicht sagen, um mir mitzuteilen, dass sie mein Zimmer und eigentlich auch mich total bescheuert fand. Ich beeilte mich, aus dem Haus zu kommen, damit ich nicht zu lange der Versuchung widerstehen musste, sie rauszuschmeißen.
Obwohl der Weg zur Burg Falkenstein mit dem Fahrrad nur eine Stunde dauerte (der Rückweg bergab nur eine halbe), war ich erst ein einziges Mal dort gewesen. In der dritten Klasse hatten wir auf einem Schulausflug eine langweilige Führung durch die Burg bekommen. Wir wurden mit hunderten von adligen Namen und Jahreszahlen bombardiert, und kaum jemand hörte zu. Die Greifvogelwarte war damals geschlossen gewesen.
Als ich erschöpft mein Rad das letzte, wahnsinnig steile Wegstück zum Burghof hinaufschob, hatte ich meine erste Begegnung mit Rudolf von Meutinger. Ein gewaltiger grüner Geländewagen kam mir entgegen und rauschte so dicht an mir vorüber, dass ich dachte, er würde mich von der Straße fegen. Ich wusste zwar nicht, wer am Steuer saß, aber mein Gefühl sagte mir, dass es der Falkner sein musste. Erkennen konnte ich nur, dass der Mann einen Bart und eine große Nase hatte.
Ich stellte mein Rad auf dem ersten Burghof vor dem Andenkenladen ab, wo man die Eintrittskarten für die Innenräume und die Greifvogelshow kaufen konnte. Auf dem Gelände durfte man zum Glück herumlaufen, ohne dafür zu bezahlen. Mehr hatte ich ja erst mal nicht vor. Einen Augenblick lang blieb ich allerdings noch stehen und bewunderte das Mountainbike, das dort neben meinem im Fahrradständer stand. Ein pechschwarzes Silverline mit silbernem Flammenmuster und ein paar kleinen weißen Totenschädeln auf dem Rahmen. Die Schädel waren zwar nicht so mein Geschmack, und alles in allem war mir das Rad ein bisschen zu schlicht ausgestattet, aber cool sah es schon aus.
Um den ersten Hof herum lagen die Gebäude, die wir damals mit der Klasse besichtigt hatten: die ehemaligen Wohnräume der Burgbesatzung, Wachstuben, große Säle, Waffenkammer, Küche und Verlies. Die vornehmen Räume des Burgherrn und seiner Familie hatten dagegen im Bergfried gelegen, einem hohen, breiten Turm im zweiten Innenhof. Sie waren nicht erhalten geblieben. Als man den Turm renoviert hatte, war dort die
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