Rabenmond - Der magische Bund
zwischen den Mauerringen heulte, trug abwechselnd Schlachtenlärm heran oder verschluckte alle Geräusche, als mache er sich einen Spaß daraus, die Wirklichkeit zu verwischen.
Klaffend wie ein Schlund erschien das letzte Tor vor ihr. Sie hörte das Rauschen des Flusses, das von so vielen Erinnerungen erzählte - Geschichten aus einer fernen, anderen Realität. Das Gittertor aber war niedergerissen, die Wellen brachen sich laut und wütend am herausragenden Eisen.
Mion lief am Ufer entlang, stolperte durch die Dunkelheit der Bäume. Ihr wurde bewusst, wie absurd die Hoffnung war, Lyrian zu finden... selbst wenn es nicht vor Kämpfenden wimmeln würde, hätte sie Tage, ja Wochen in den unendlichen Labyrinthen des Palasts umherirren können, ohne auf eine Spur von ihm zu stoßen. Ganz zu schweigen von den weiten Gärten... die Gärten. Plötzlich wurde ihr klar, dass er hier sein würde, wenn er noch frei und am Leben war. Er hatte es selbst oft genug gesagt, die Gärten waren mehr seine Heimat als die Hallen des Palasts. Hier kannte er sich besser aus als jeder andere Drache. Er kannte Verstecke.
Männer und Frauen mit Fackeln und blitzenden Waffen schälten sich aus der Finsternis und rannten direkt auf Mion zu. Für eine entsetzliche Sekunde glaubte sie, man wollte sie angreifen - dann sah sie, dass eine Gestalt vor der Gruppe herstolperte, offenbar auf der Flucht. Mion ließ sich flach ins Ufergestrüpp sinken. Dass sie ein Mensch war, schützte sie längst nicht mehr vor dem Zorn der Rebellen, schließlich waren auch die Drachen nichts anderes mehr. Ihr feines Gewand mochte ausreichen, dass man sie für eine vom Hohen Volk hielt.
Der Trupp rannte an ihr vorüber. Mion hörte, wie sie den Flüchtling nur ein paar Meter hinter ihr einholten, aber sie sah nicht zurück. Leise kroch sie durch den Schnee. Hinter den Bäumen erschienen noch mehr Fackeln. Sie kamen rasch näher.
Mion erreichte einen umgestürzten Baumstamm, der über dem Fluss lag. Eine Barke hatte sich im Geäst verfangen. Vorsichtig kletterte Mion auf den Baumstamm und schob sich mit Händen und Knien voran, bis sie die Barke erreichte. Das Boot schwankte und platschte unter ihrem Gewicht. Mit einem Sprung schaffte sie es ans andere Ufer und fiel in die Büsche, gerade als die Gestalten vorübereilten.
Sie war nass vor Schnee und Angstschweiß. Zitternd stand sie auf und tastete sich durch die Dunkelheit. Von irgendwo drang ein schmutzig roter Schimmer durch die Bäume, doch er reichte kaum aus, um etwas zu erkennen. Stimmen schwollen an und verloren sich im Klirren der Waffen. Immer wieder glaubte Mion, Schritte hinter sich zu hören, aber es waren nur ihre eigenen. Dann lichteten sich die Bäume und der Vollmond goss sein kaltes Licht in ein Tal. Ihr Herz sank. Verträumt wie eine Glocke aus Eis lag die geheime Pagode im Mondlicht, so unberührt und schön, dass sie unmöglich Teil dieser Nacht sein konnte.
Ihre Füße stolperten über die Federgräser, die nun geknickt unter dem Schnee lagen. Weiß tanzte ihr Atem vor ihr her.
Sommer. Sein Lachen. Wilde Erdbeeren und -
Der erste Regentag -
Ganz nah erscholl Kampfgebrüll, das Fauchen von Tieren war zu hören. Fackeln schwebten vorüber.
Er war nicht hier. Natürlich nicht. Es war nur Wunschdenken gewesen, das Mion hergetrieben hatte. Nun, wo sie der Pagode gegenüberstand, Vergangenheit und Gegenwart untrennbar ineinanderliefen, senkte sie die Schultern und legte alle Hoffnung ab. Sie ergab sich. Lyrian war verloren, so wie Jagu verloren war. Und Wynter. Und sie.
Zittrig holte sie Luft. Der Tod hatte alle gefunden, nur sie nicht. Noch nicht.
»Ich habe gedacht, dass du mich hier finden würdest.«
Sie fuhr zusammen, als ein Schatten aus der Pagode trat.
Und dann stand er vor ihr, stand da wie ein Geist. Sein Umhang war zerfetzt und sein Haar wirr, das bleiche Gesicht voller Asche.
Über dem Tal lief eine johlende Rebellenschar vorüber, die etwas - jemanden - an einem Seil hinter sich herzog. Weder Mion noch Lyrian achtete darauf.
»Willst du deine Freunde nicht rufen?«, sagte er kaum hörbar. »Ich ergebe mich.«
»Ich bin hier, um dich zu retten.« Sie merkte selbst, wie abwegig das klang. Lyrian sah zur Pagode hinüber, ohne auf sie einzugehen. Vielleicht hatte er sie nicht verstanden. Vielleicht glaubte er, sie spiele ihm noch immer etwas vor.
»Meine Korpusse sind weg... ich glaube, inzwischen haben alle sie verloren. Nur ein paar Priester haben das Ritual noch
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