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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sterben, im Haus, wo er alles verloren hatte: seine Mutter, seinen Vater und schließlich Holypta.
    Nach zwei Tagen erlaubte er Faunia doch, die Schlangen und die Kreide hereinzubringen, damit sie Ritus spielen konnten.
    »Komm her«, befahl Jagu Mion, als Faunia den Kreidekreis zog. Sie sah weg. Er konnte sie zu nichts mehr zwingen. Als Jagu sie am Arm hochzog, kamen brennende Tränen in ihr auf.
    »Nachdem du den Prinzen getäuscht und das Reich in den Krieg gestürzt hast, sollte Ritus dir wirklich kein schlechtes Gewissen mehr bereiten. Los, steh auf.«
    Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Wieso tust du das?«
    Er antwortete nicht. Da begriff Mion, dass es auf seine verrückte Art ein Zeichen der Fürsorge war. Er hatte ihr alles genommen und führte sie in den Tod. Aber er wollte ihr mit Ritus eine Freude bereiten.
    Mion versuchte, sich loszumachen.
    »Bald ist sowieso alles vorbei, also spiel nicht die Reumütige. Um der alten Zeiten willen!«
    »Die gab es nie«, erwiderte sie dumpf.
    Ein eisiges Lächeln lag auf Jagus Gesicht, die Grübchen zuckten auf seinen Wangen. »Also schön. Dann eben nicht.« Und er wirkte so hilflos und einsam wie früher. Aber Mion ließ nicht zu, Mitleid mit ihm zu empfinden - sie klammerte sich an ihren Verstand.
    Er kehrte zu Faunia in den Kreidekreis zurück, und Mion sah mit Abscheu zu, wie sie Ritus spielten. Tränen rollten über ihre Wangen, als sie die Schlange töteten. Vielleicht verdiene ich alles, dachte sie bitter. Sie hatte sich bereitwillig dem Bösen in die Arme geworfen und nun würde sie in der Umarmung ersticken. Es geschah ihr nur recht.
    Als Jagu schwebte, weinte und lachte er. Mion hörte ihn von Sommertagen sprechen, von wogenden Gräsern… er flüsterte Liebesschwüre und so schreckliche Verwünschungen, dass sie schauderte. Faunia saß stumm da und beobachtete ihn. Sie musste wissen, wer Holypta war, und sie ertrug es, indem sie ihren Hass auf alles rings um Jagu richtete, nur nicht auf ihn.
    Mion fuhr zusammen, als sie unten im Haus lautes Krachen und Poltern hörte. Erschrocken spähte sie aus dem Fenster und sah, wie ein Löwenrudel ins Haus eindrang. Jagu stieg taumelnd aus dem Kreidekreis, stützte sich an den Bettpfosten und starrte in fiebriger Erwartung zur Tür.
    Unten klirrte Glas. Jeden Moment erwartete sie, Tatzen auf der Treppe zu hören, doch stattdessen verstummten die Geräusche. Die Stille pochte ihr in den Ohren.
    »Sie weiß, wo sie mich findet«, murmelte Jagu. »Wo bleibst du? Du weißt, wo du mich findest...«
    Draußen wurde es dunkel. Fackeln glommen in den Straßen auf, aufgebrachte Stimmen hallten durch die Dämmerung.
    Die Sphinxe, die das Haus durchsucht hatten, preschten nach draußen und griffen die Menschen an. Ein entsetzliches Gefecht brach aus. Mion presste sich die Hände auf die Ohren, aber die Schreie ließen sich nicht ausschließen. Als endlich Stille eintrat, schien die ganze Welt in der Dunkelheit verschwunden zu sein. Kein Geräusch war weit und breit, weder auf der Straße noch im Haus. Mit hängenden Schultern lehnte Jagu an der Tür.
    Im Morgengrauen sah Mion die Spuren des Gefechts: Der neue Schnee hatte das Blut und die Leichen nicht ganz überdecken können. Ihr wurde übel bei dem Anblick. Und sie begriff, dass der Tod sie wahrscheinlich so oder so erwartete, ob Jagu sie hier festhielt oder ob sie draußen war.
    In der Nacht vor der Wintersonnenwende schrak Mion aus dem Dämmerschlaf, weil sie das Tosen ferner Kämpfe hörte. In der Dunkelheit gingen Flammen auf, Rauchschwaden stiegen geisterhaft in den rotfleckigen Himmel. Kriegshörner erschollen wie Donner. Mion begann zu zittern. Die Menschen dort draußen starben wegen ihr.
    Die ganze Nacht lang dauerten die Gefechte. Mion tat kein Auge zu. Faunia zuckte zusammen, wenn der Wind die Schreie zu ihnen herantrug, nur Jagu wirkte so unberührt, als seien die Kämpfe nichts als ein Bühnenspiel.
    In der Früh vernahmen sie Trommeln. Der Kriegslärm schwoll an und dann war er plötzlich ganz nah und Mion hörte das Klirren der Waffen und die Parolen der Rebellen: »Freiheit! Wahrheit...«
    »Jetzt sind sie in der Stadt«, rief Faunia und lief zum Fenster. Ob sie überhaupt begriff, dass sie mitverantwortlich war für das Massensterben? Wahrscheinlich nicht - sie hatte Jagu gehorcht, das war alles, was sie wusste.
    »Die Geschwisterstaaten«, murmelte sie atemlos. Auch Mion sah nun die blauen und grünen Banner in der Menschenschar, die die Straßen überflutete.

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