Rabenmond - Der magische Bund
Ritus waren jetzt das Letzte, was sie hören wollte.
»Wildtiere töten ist ein Vergehen«, knurrte ihr Vater. »Egal ob Hirsch oder Schnecke! Wenn die Sphinxe das erfahren … du bringst uns alle in Gefahr. Lass diesen Unsinn, hast du verstanden?«
Mion blickte zu ihm auf. Sein Gesicht hatte immer einen unberechenbaren Ausdruck. Das lag nicht nur an der Sorgenfalte zwischen den Augen, die Mion so unergründlich waren, sondern auch an einer Narbe, die von seiner Schläfe bis zum Mund reichte. Die Verletzung hatte er sich beim Holzfällen zugezogen. Fast jeden Morgen brach er in den Wald auf und schlug Holz, um es in Wynter zu verkaufen, denn wie die meisten Ruinenbewohner lebten sie von dem, was in den Wäldern wuchs. Ihre Mutter verdiente durch Näharbeiten dazu, und wenn etwas mehr Geld zusammenkam, kochten sie einen großen Kessel Suppe, die Mion auf der Straße verkaufte. Ansonsten war Mion für Mirim verantwortlich. Wenn er schlief (und zum Glück tat er das oft - zu oft, wie ihre Mutter manchmal beklagte, die abergläubisch war und Schlafgeister fürchtete), half sie beim Spindelnwickeln, Kochen und anderen Hausarbeiten.
Abends hatte sie Zeit für sich und konnte mit Saffa und Kajan durch die Gassen schlendern. Hin und wieder spielten sie Ritus. Dass es streng verboten war, hielt sie nicht davon ab. In den Ruinen war sowieso nur eins gewiss, nämlich der Verfall von allem, Häusern und Hütten, Träumen und Menschen. Und dann ging das Leben trotzdem weiter.
Als sie ihr Frühstück beendet hatten und ihr Vater aufstand, sammelte Mion die Schüsseln ein. Sie wartete, bis ihr Vater mit seiner Axt und dem Schulterkorb gegangen war, dann wandte sie sich an ihre Mutter und sagte: »Ich glaube, ich werde krank. Könnte ich vielleicht im Haus bleiben?«
Am Nachmittag sah sie ein Rudel Sphinxe.
»Mion, was machst du da?«
Sie fuhr herum, als ihr Bruder hinter ihr erschien. Seufzend zog sie ihn auf den Schoß und deutete durch das Loch in der Wand.
»Siehst du die?« Sie spürte, wie Mirim den Atem anhielt. Ein Dutzend Löwen lief durch die schmale Gasse. Ihre mächtigen Pranken zertraten den Schnee zu Matsch. Unruhig schwenkten ihre Köpfe hin und her, auf der Suche nach Geruchsspuren. In ihren Augen glühte der Scharfsinn von Wesenheiten, die keine Tiere waren.
Mion merkte, dass sie die Finger in Mirims Arm gekrallt hatte, denn er gab ein Quieken von sich.
»Was wollen die?«, flüsterte er.
Sie versuchte, eine gelassene Miene aufzusetzen. »Die Sphinxe sind von den Drachen ausgesandt, um uns zu beschützen, das weißt du doch. Sie passen auf, dass keine Feinde kommen.«
Er nickte langsam. Das Rudel war inzwischen außer Sicht. Mion spähte noch einmal hinaus, um sicherzugehen, dann lächelte sie Mirim an und zog ihm vorsichtig den Daumen aus dem Mund.
»Erzählst du mir eine Geschichte?«, nuschelte er, und sie legte die Arme um ihn. So war das immer, wenn ihm etwas Angst machte, dann konnte ihn nur ein Märchen beruhigen. Sie schmiegten sich eng aneinander und sprachen ganz leise, als müssten sie sich vor der Welt verstecken.
»Was willst du denn hören? Die vom ersten Kaiser, der Wynter vor dem bösen Mann gerettet hat?«
»Nee... erzähl mir die, wo der Junge den Drachen besiegt.«
Mion hielt inne. Das war nicht gerade eine von den Geschichten, die in den großen Schulen am Rand der Ruinen gelehrt wurden. Aufrührerische Fabeln wie diese gingen heimlich im Volk um, waren irgendwann von zynischen Gegnern der Herrscher erfunden und bei den Kindern verbreitet worden wie vergiftete Süßigkeiten. Mion war die politische Botschaft einerlei. Wenn ihr kleiner Bruder die Geschichte hören wollte, bekam er sie.
»Also, es war einmal ein Junge, der war so schlau wie du.«
Mirim steckte sich den Daumen wieder in den Mund, spähte noch einmal angstvoll aus dem Wandloch und zog beruhigt den Kopf ein, als er keine Sphinxe mehr entdeckte.
»Eines Tages kam einer vom Hohen Volk daher, in Gestalt eines prächtigen Panthers mit Adlerschwingen. Als er den Jungen sah, dachte er: Ach, ein Sohn der Menschen! Dumm sind sie alle, und selbst die wenigen mit Verstand werden so von ihren Gefühlen genarrt, dass es kaum einen Unterschied macht. Und weil ein Drache keine Gefühle kennt, weder Reue noch Mitleid, beschloss er, den Menschenjungen zu fressen.«
Mirim verkrampfte sich kaum merklich.
»In seiner Not rief der Junge: ›Du und ich, wir sind gar nicht so verschieden! Du solltest mich lieber nicht fressen.‹<
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