Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
einfach normal sein? Ich wünschte, ich hätte eine richtige Mutter und nicht nur eine große Schwester, die so furchtbar wichtig ist und nie Zeit hat.“
Elsa sah von den Tagebüchern auf und bemerkte, dass es draußen schon dämmerte. In dem Moment fiel ihr ein – warum, wusste sie nicht – dass sie ‚Bolhins Reisen’ in Diewans Stoffwagen vergessen hatte. Sie hatte nicht mehr darin gelesen seit ihrer Verwandlung. Als sie mit Diewan unterwegs gewesen war, hatte sie tagsüber keine Zeit gehabt und abends war sie zu müde gewesen. Jetzt fuhr das Buch mit Diewan nach Istrian zurück und sie würde nie erfahren, wie es ausgegangen war. Es klopfte an der Tür und Elsa hatte gerade noch genug Zeit, die beiden Tagebücher in eine Schublade zu werfen, bevor Resi den Kopf zur Tür hereinsteckte.
„ Das Abendessen ist fertig, Amandis. Soll ich Sistra ausrichten, dass du kommst, oder möchtest du dich noch ausruhen?“
„ Ich komme gleich“, antwortete Elsa und wartete, bis das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Dann zog sie die Schublade auf und blätterte im schwindenden Licht des Tages noch einmal durch die Tagebücher mit den herausgerissenen Seiten. Ein Brief fiel ihr entgegen. Er war vor ungefähr einem Jahr von Ulissa an Amandis geschickt worden.
„ Amandis!“, stand da geschrieben. „Warum ärgerst du dich? Du weißt doch, dass sie dir nichts sagt. Ich hole dich in Bellon ab und dann beginnt dein richtiges Leben. Wie findest du das? Es gibt da eine Welt, die ich dir unbedingt zeigen muss. Sie wird dir gefallen! Was den Vogel angeht – früher oder später holen sie ihn. Es wird besser sein, wenn wir weit weg sind, wenn das passiert. Kopf hoch, Püppchen, ich rette dich! Bis dann, deine böse Schwester Ulissa.“
KAPITEL 3
Elsa genoss die Zeit in Brisa so sehr, dass sie manchmal vergaß, weswegen sie hier war. Fast vergaß sie, wer sie war. Nur einmal am Tag, morgens, wenn Sistra ihre Stapel von Post auf einem silbernen Teller serviert bekam, kehrte Elsas Furcht zurück. Was, wenn die echte Amandis eine Nachricht schickte, die die Wahrheit enthüllte? Wo auch immer sie war, sie hatte sich bisher nicht gemeldet. Wahrscheinlich war sie bei ihrer Schwester Ulissa, über die Sistra so gut wie nie sprach. Alles, was Elsa über Ulissa wusste, hatte sie in Amandis’ Tagebüchern gelesen oder von den Bediensteten erfahren.
Ulissa galt als missraten. Die Köchin erzählte, dass Ulissa mit ihren schwarzen Haaren und der großen Nase vollkommen aus der Art schlage. Der Gärtner behauptete, Ulissa habe schon als Kind den Pfauen die Federn ausgerissen, die Hunde mit brennenden Kohlen beworfen und die Katzen am Schwanz von den Bäumen heruntergezogen. Die Wäscherin erklärte Elsa, dass Ulissa von Geburt an Unglück über die Familie gebracht habe. Sie sei ein Fluch, dem es Spaß mache, das Übelste zu verursachen.
Sistra war die älteste der vier Schwestern. Die Mutter der Mädchen starb bei Ulissas Geburt, Morawena war damals dreizehn Jahre alt und lebte schon am Hof des Königs. Die sechzehnjährige Sistra sorgte von da an für die zweijährige Amandis und das Neugeborene. Als wenige Jahre später auch noch der Vater starb, übernahm Sistra seine umfangreichen Geschäfte. Sie war erfolgreich, vermehrte die Reichtümer, doch blieb schwermütig, bis sie eines Tages ihren Mann Golo fand.
Es stimmte, was Amandis in ihre geheimen Tagebücher geschrieben hatte. Sistra war immer unterwegs oder beschäftigt. Nur zu den Mahlzeiten nahm sie sich Zeit für Amandis, doch sie sprachen nur über belanglose Dinge. Erst abends, wenn Sistra am Schreibtisch saß und niemand außer Golo und Amandis im Raum war, konnte es geschehen, dass Sistra interessante oder merkwürdige Dinge sagte.
„ Stell dir vor“, sagte sie einmal zu Golo, „jetzt zweifeln sie schon daran, dass der Vogel in unserem Käfig der echte ist!“
„ Wer zweifelt daran?“
„ Alle möglichen Leute“, sagte Sistra und tupfte den Brief trocken, den sie gerade geschrieben hatte. „Selbst Ega hat mir neulich so komische Fragen gestellt. Ob ich es denn bemerkt hätte, wenn der Vogel vertauscht worden wäre. ‚Ega!’, habe ich gerufen, ‚wer bitteschön soll den Vogel vertauschen, wenn ich darauf aufpasse?’ Dann war sie still. Aber alleine, dass sie mir solche Fragen stellt, zeigt mir, dass hinter unserem Rücken viel geredet wird.“
„ Trotz allem könnte das Mädchen ein Rabe gewesen sein“, sagte Golo. „Mir haben jetzt
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