Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Elsa hatte das sichere Gefühl, dass er schon dort gewesen war.
„ Glaubst du“, fragte Elsa, „dass es gefährlich wäre, wenn ich dort hinginge?“
„ Du solltest auf keinen Fall hingehen!“, sagte er sehr bestimmt und stellte seine Tasse auf dem Tisch ab. „Aber für den Fall, dass du doch hingehen solltest, musst du dich unauffällig anziehen und darfst mit niemandem sprechen außer mit Ulissa. Sie muss auf dich aufpassen. Geh nur hin, wenn du sicher weißt, dass sie dort ist.“
Elsa nickte und schaute den Besuchern zu, die ehrfürchtig die silberne Rathausdecke besichtigten. Brisa war eine glückliche Stadt. Zumindest dort, wo Elsa bisher gewesen war, hatte es nichts Hässliches oder Trauriges gegeben. Keine Armut, keine Ruinen, keinen Müll. Sie fragte sich, ob es rund um den Umgekippten Eimer anders aussah.
„ Du wirst doch Sistra nichts davon erzählen?“, fragte sie. „Ich meine, von Ulissas Brief und dem Umgekippten Eimer? Sistra wird immer ärgerlich, wenn die Rede auf Ulissa kommt.“
„ Ich weiß. Das Mädchen macht ja auch viel Unsinn. Neulich war sie in Antolia und hat ihre ganze Verwandtschaft aufgemischt. Euer Cousin hat starke Nerven, aber Ulissa war zu viel für ihn.“
„ Warum? Was hat sie denn angestellt?“
„ Nach allem, was ich gehört habe, hatte sie sehr viel Männerbesuch und schreckte nicht davor zurück, die feine Gesellschaft Antolias mit ihren rebellischen Ideen zu schockieren. Nachdem sie eurem Cousin einen lebendigen giftigen Krebs auf den Teller geschmuggelt hatte, hat er sie vor die Tür gesetzt. Typisch Ulissa, sie denkt nie darüber nach, was sie anrichten könnte. Aber ein bisschen lustig fand ich’s doch.“
Vielleicht war das der Grund, warum Elsa so gerne mit Leimsel zusammen war. Dieser Herr mittleren Alters wirkte so unfehlbar vornehm – und hatte doch eine große Freude an den unvornehmen Seiten des Lebens.
„ Ein giftiger Krebs? Das klingt gefährlich.“
„ Ja, normalerweise schon“, erwiderte Leimsel. „Aber euer Cousin weiß mit giftigen Krebsen umzugehen.“
Elsa hätte zu gerne gefragt, wie der Cousin hieß und wo sich jenes Antolia befand, in dem die Verwandten der Relings lebten. Doch das konnte sie ja nicht. Außerdem rechnete sie bei dieser Gelegenheit noch einmal Ulissas Alter aus. Wenn sie richtig rechnete, war Ulissa jetzt sechzehn Jahre alt, während Amandis demnächst ihren achtzehnten Geburtstag feierte. Offensichtlich war Ulissa schon weit mehr an Männerbekanntschaften interessiert als die brave Amandis. Zumindest fanden sich in Amandis’ Tagebüchern keine Hinweise auf Schwärmereien.
„ Warst du schon am Meer, seit du wieder hier bist?“, fragte Leimsel.
„ Nein“, sagte Elsa, „Sistra hat mir einen Ausflug dorthin versprochen, aber bisher kam immer etwas dazwischen.“
„ In ein paar Tagen muss ich sowieso an die Küste. Wenn du möchtest, könnten wir das mit einem Spaziergang am Kap verbinden“, schlug Leimsel vor.
„ Sehr gerne!“, sagte Elsa und überlegte, ob sie dieser Ausflug in Schwierigkeiten bringen könnte. Sie hatte keine Ahnung, wie man zum Meer oder gar zu einem Kap kam.
Um ihre Wissenslücken zu schließen, stöberte Elsa in Sistras Bibliothek nach einem Atlas. Die Atlanten dieser Welt waren sehr groß und merkwürdig gezeichnet. Es dauerte, bis Elsa die verschnörkelten Buchstaben lesen konnte, die Ansammlungen von Kreuzen als Städte deutete, die Schlangenlinien als Wälder und das Schraffierte als Meer. Dabei half ihr ein Buch über Sommerhalt, das das Land in allen Einzelheiten beschrieb. Von Brisa aus erreichte man das Meer auf einem Schiff, das über den Fluss nach Norden fuhr. Auch führten mehrere Straßen durch die Hügel, die kürzeste davon endete am Kap, einem kleinen Berg, der ein beliebter Ausflugsort war.
Beim Durchblättern des Buches stieß Elsa auf ein großes Kapitel über eine wüste Gegend namens Feuersand, die sich fast im Herzen Sommerhalts befand. Es war ein zerstörtes, unbewohnbares Land. Wagte man sich in die Mitte von Feuersand, so wurde man angeblich verschlungen von der vergifteten Erde. Doch am Rand konnte man sich tagelang aufhalten, wenn man genügend frisches Wasser und Essensvorräte bei sich hatte. An diesem Rand von Feuersand, in einem Landstrich namens Narben, befand sich auch eine alte Burg des Königs. Trotz hieß sie und war vor sehr langer Zeit einmal der Regierungssitz gewesen. Nach der Zerstörung der Gegend waren die Könige fortgezogen. Doch
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