Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
gerade war – steckte auch in Elsa. Mit der Gestalt hatte es von ihr Besitz ergriffen. Elsa war schüchterner als sonst, kleinlauter und zaghafter. Sie verhielt sich wohlerzogen oder hatte zumindest das starke Bedürfnis es zu versuchen. Sie erfreute sich an ihrem lieblichen, verspielten Zimmer, obwohl sie in Istland keinen Wert auf solche Sachen gelegt hatte. Elsa war am liebsten in Istlands rauen Hügeln herumgeklettert. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich freiwillig an ihren Schreibtisch zu setzen, um schwärmerische Tagebücher zu schreiben. Doch jetzt kam es ihr zugute, dass Amandis diese Angewohnheit hatte. Natürlich wusste Elsa, dass man nicht in den Tagebüchern anderer Leute herumstöbern durfte. Aber durfte man das Aussehen anderer Menschen annehmen? Durfte man sich in deren Familie einschleichen? Nein. Elsa hatte schon so viel falsch gemacht, was machte es da noch aus, wenn sie die Tagebücher durchblätterte auf der Suche nach wichtigen Informationen?
Zunächst fand sie nicht viel. Amandis war ein Mädchen, deren Gedanken bis zum nächsten Fest reichten und sich auf dem Weg dorthin in Fragen der Garderobe verloren. Amandis liebte Tiere, fand jedoch, dass Sistras Kater Robiss viel zu dick war, was daran lag, dass Sistra ihn über alle Maßen verwöhnte. Den Raben im Käfig oder ihre Schwester Morawena erwähnte Amandis nie. Dafür zählte sie auf, welche Geschenke sie für ihre Verwandten eingekauft hatte oder für den Gärtner oder die Frau, die immer gefärbte Wolle an der Haustüre gegen Essen eintauschte. Elsa war ein bisschen beschämt, weil Amandis so ein liebes Mädchen zu sein schien, das nur arglose Gedanken dachte, anderen gerne eine Freude machte, viel träumte, keine Sorgen kannte und dazu die Anmut in Person war. Das erfuhr sie aus all den Komplimenten, die Amandis von Freunden und Bekannten erhielt und wortwörtlich in ihrem Tagebuch festhielt, weil sie ihr so viel Vergnügen bereiteten. Immerhin einen Fehler hatte das Mädchen: Sie war eitel.
Elsa spürte beim Durchblättern der Bücher etwas Abgründiges in sich. Sie selbst war nicht so lieb, nicht so gutgläubig. Sie suchte immer nach der Schattenseite von Dingen, einfach weil sie sich im Schatten wohl fühlte. Und sie suchte nach Amandis’ Schattenseite. Es musste doch noch mehr geben als die selbstverliebte Schilderung eines Schmuckstücks, das dem Mädchen besonders gut stand. Dies war wohl der Grund, warum Elsa die Tagebücher recht schnell beiseite legte und das Zimmer nach Geheimnissen durchstöberte. Richtig war das ja nicht, Puja wäre über diese schamlose Neugier von Elsa empört gewesen, aber Puja war nicht da und schließlich ging es darum, einen Weg nach Hause zu finden. Warum nicht in Amandis’ Schrankfächern danach suchen?
Elsa hatte ein Gespür für Verstecke und Geheimnisse. Sie brauchte nicht lange, um einen kleinen Schlüssel aufzutreiben, der sich in der Innentasche eines zusammengelegten Nachthemds befand. Das Schlüsselloch hierzu war auf der Rückseite des kleinen Schreibtischs zu finden, die dem Fenster zugewandt war. In grimmiger Freude und mit ein bisschen schlechtem Gewissen öffnete Elsa Amandis’ Geheimfach und fand zwei weitere Tagebücher, aus denen viele Seiten herausgerissen waren. Amandis hatte also doch etwas zu verbergen.
Den verbliebenen Seiten der geheimen Tagebücher entnahm Elsa, dass es außer Sistra, Morawena und Amandis noch eine vierte Schwester im Haus der Relings gab. Doch sie war in Ungnade gefallen, trieb sich meist in der weiten Welt herum und galt als böse. Nur Amandis liebte sie. Sie hieß Ulissa und war die jüngste der Familie. In ihrem Tagebuch erzählte Amandis, wie sie Ulissa heimlich traf. Es gab ein Gasthaus in der Nähe des Großmarkts der Fischer. Es hieß „Der umgekippte Eimer“. Im Hinterzimmer dieser Kneipe hatten Amandis und Ulissa schon viele gemeinsame Nachmittage verbracht. Amandis schrieb immer wieder, wie verrückt Ulissa doch sei, wie lustig und wie seltsam und dass sie bestimmt ein gutes Herz habe, auch wenn die Leute das nicht glaubten.
Amandis schrieb auch über Sistra. Elsa erfuhr, dass Sistra entweder viel arbeitete oder viel verreist war. Dass sie Amandis nie mitnahm an die weit entfernten Orte und ihr auch nichts von den großen Dingen erzählen wollte. Amandis glaubte, dass Sistra auf sie herabsah, weil sie unbegabt war.
„ Ich fürchte mich vor dem Raben“ schrieb Amandis, „und vor denen, die ihn befreien wollen. Warum können wir nicht
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