Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
schon mehrere Leute erzählt, dass sie Ulissa zum Verwechseln ähnlich sah.“
Elsa hielt die Luft an, als sie das hörte. Redeten die beiden über sie? Hatten sie gerade behauptet, dass sie, Elsa, der bösen Ulissa ähnelte? Oder sprachen sie über jemand ganz anderen?
„ Es gibt nur einen Raben“, sagte Sistra. „Es gab neuntausend Jahre lang nur einen Raben. Einen einzigen! Warum sollten es plötzlich zwei sein? Kannst du mir das verraten?“
Golo leerte das Weinglas, das er gerade in der Hand hielt.
„ Vielleicht hat es schon immer mehrere gegeben, die wir für einen einzigen gehalten haben, weil sie nicht gleichzeitig aufgetaucht sind. Die Antolianer haben das nie ausgeschlossen und so abwegig finde ich es auch nicht.“
„ Sie tauchen nie gleichzeitig auf“, sagte Sistra, „und jetzt tun sie es auf einmal doch? Wenn es so ist, dann muss es dafür eine Erklärung geben. Ich wünschte, wir würden dieses Kind endlich finden!“
„ Das Wichtigste ist immer noch, dass uns Rabendiener und Ausgleicher nicht zuvorkommen.“
Elsa wagte es normalerweise nicht, sich einzumischen oder Fragen zu stellen. Die Gefahr, dass sie etwas fragte, was sie hätte wissen müssen, war zu groß. Doch heute konnte sie nicht still sein.
„ Wenn das Kind nun wirklich ein Rabe wäre“, fragte sie, „was würdet ihr dann mit ihm machen?“
Sistra drehte sich nach Elsa um und sah sie traurig an.
„ Das, was wir eben tun müssen, meine Kleine. Wir würden es in einen Käfig sperren. Am besten weit weg von hier. Denn zwei von der Sorte ertrage ich nicht unter meinem Dach.“
Elsa nahm es zur Kenntnis und brachte an dem Abend kein weiteres Wort heraus. Der Vogel im Käfig war also angeblich der echte Rabe und damit ein Mörder und Entführer oder vielleicht doch etwas ganz anderes. Denn die Geschichte, die man sich in Hagl von dem frei umherschweifenden Rabenteufel erzählte, passte so gar nicht zu dem eingesperrten, aufgeplusterten Vogel, den Sistra zwischen Arbeitszimmer und Salon hin- und hertrug. Elsa hatte es von Anfang an vermutet, doch allmählich wurde es zur Gewissheit: Die Relings führten zwei Leben. Ein offizielles in Sommerhalt und ein geheimes, das über Sommerhalt hinausging. Und der Vogel im Käfig gehörte zweifellos zu dem geheimen Leben.
In der Nacht nach diesem Gespräch schlief Elsa schlecht. Doch schon am nächsten Morgen, als die Sonnenstrahlen über ihre Bettdecke gekrochen kamen, war Elsa wieder zuversichtlich. Bisher hatte niemand etwas gemerkt und das Leben in Brisa war schön. Ihr blieb doch gar nichts anderes übrig, als hierzubleiben und noch mehr herauszufinden. Wenn sie das schon tun musste, dann wollte sie das Beste daraus machen. Mit Leimsel, dem älteren Herrn, der sie hierhergeführt hatte, gelang ihr das besonders gut. Er kam oft vorbei, um mit Elsa Kantali zu spielen – ein Spiel, das Schach sehr ähnelte. Elsa hatte gehört, dass Leimsel mit einer Frau namens Madelene verheiratet war, die man auch den „roten Drachen“ nannte, weil sie ihr Haus nie verließ, nur dunkelrote Kleider trug und Leimsel angeblich jeden Tag vor die Tür jagte, um alleine sein zu können. Elsa war das nur recht. So kam sie in den Genuss seiner netten Gesellschaft. Wenn sie nicht Kantali spielten, unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge in die Stadt. So wurde Elsa mit der Stadt vertraut und mit einigen Menschen, die sie unterwegs trafen und die angeblich alte Bekannte waren. Einmal saßen sie im Gästesaal des Rathauses und sahen durch die großen Fenster nach draußen auf den Rathaus-See.
„ Kennst du eigentlich ein Gasthaus, das ‚Der umgekippte Eimer’ heißt?“, fragte Elsa und nippte an ihrer Nokkakau-Tasse.
„ Wie kommst du denn an diese Adresse?“, fragte Leimsel erstaunt.
„ Ulissa hat mir einen Brief geschrieben und vorgeschlagen, dass wir uns dort treffen könnten. Hältst du das für eine schlechte Idee?“
„ Das ist typisch für Ulissa!“, sagte Leimsel und schüttelte so empört den Kopf, dass der Nokkakau in seiner Tasse überschwappte. „Im Umgekippten Eimer verwürfeln betrunkene Seemänner ihren Lohn und auf ihren Knien sitzen Mädchen, die sich weit älter und fröhlicher schminken, als sie es in Wirklichkeit sind. Ulissa hat ganz bestimmt ihren Spaß im Umgekippten Eimer, aber nicht du, Amandis.“
„ Warst du schon mal dort, Leimsel? Woher weißt du das alles?“
„ Man muss nicht dort gewesen sein, um über den Eimer Bescheid zu wissen“, sagte Leimsel, doch
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