Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
gestört. Jemand betrat den Raum, schnellen Schrittes, und stellte sich neben Nada hinter den Tisch.
„ Was ist hier los?“, fragte er und blickte Gaiuper in die Augen, als sei er selbst der Stärkere und Gaiuper nur ein kleiner Wicht. Der Mann musste wahnsinnig sein, schließlich war er nicht bewaffnet. Selbst wenn er ein Messer bei sich trug oder gar irgendeine verbotene, moderne Waffe – gegen drei Schläger, nicht mal gegen Tegga alleine hätte er etwas ausrichten können.
Gaiuper überließ es Nada, auf Morawena zu zeigen und verzweifelt zu erläutern, in welchem Zustand sie sich befand. Der törichte Mann – dem Aussehen nach handelte es sich um einen Antolianer – hörte nicht auf, Gaiuper anzustarren. Doch Gaiuper konnte seinen Blick gelassen erwidern. Irgendwoher kannte er diesen blonden Ausgleicher. Handelte es sich womöglich um Torben Anturs Enkel?
Torben Antur lenkte seit Jahrzehnten die Geschicke der Hochwelten. Länger als jeder andere hatte er sich bisher an der Spitze der Regierung gehalten. Sein Geltungsdrang war so groß, dass er schon vor Jahren einen seiner Enkel zum Nachfolger auserkoren hatte. Er brachte den Enkel als jüngstes Mitglied aller Zeiten im Rat unter, doch anstatt die Macht zu ergreifen, die man ihm auf dem Silbertablett reichte, schaffte es dieser Enkel mit unglaublicher Regelmäßigkeit, sich alle paar Jahre ins machtpolitische Niemandsland zu katapultieren. Wovon er sich zwar stets erholte, doch niemals genug, um wieder in Reichweite des Zepters zu gelangen, das er ohne Mühe hätte haben können, wenn er sich nur ein bisschen geschickter oder klüger angestellt hätte. Torben Anturs Enkel war der größte Tölpel, den die Hochwelten jemals hervorgebracht hatten. Es sei denn, er arbeitete in Wirklichkeit auf eigene Rechnung und war mit einer Verschlagenheit ausgestattet, die die Vorstellungskraft eines gewöhnlichen Antolianers bei weitem überstieg, weswegen weder Torben noch sonst ein Mitglied der Regierung ahnten, mit was für einem Blutsauger sie es zu tun hatten.
Gaiuper war es jedenfalls nicht entgangen, dass sich der junge Antur jeden Feind der Hochwelten zum Freund machte. Er spielte den Möwen Informationen zu, war lange Zeit mit Morawena befreundet gewesen und hatte das Rabenmädchen, das plötzlich in Sommerhalt aufgetaucht war, vor dem Galgen gerettet. Es konnte kein Zufall sein, dass er auch König Nadas Vertrauen besaß, und somit zu dessen Kenntnissen über Feuersand ungehinderten Zugang hatte. Ulissa war womöglich der Schlüssel in diesem Spiel. Er hatte sie nach Antolia geholt und sich dann angeblich mit ihr überworfen. Schon immer hatte Gaiuper vermutet, dass es sich bei diesem Streit um einen Bluff gehandelt hatte. Ulissa hatte nie ein Geheimnis aus ihren Plänen gemacht: Sie wollte den Umsturz, sie wollte die bestehenden Machtverhältnisse auf den Kopf stellen. Wenn dieser Antur kein Idiot war, dann hatte er mit Ulissa unter einer Decke gesteckt. Nach ihrem Tod hatte er ihre Pläne weiterverfolgt. Sein wahres Ziel mochte dem von Gaiuper gar nicht so unähnlich sein.
All diese Gedanken schossen Gaiuper blitzschnell durch den Kopf, während sein Gegenüber nicht aufhörte, ihn eindringlich zu mustern, als könne er in Gaiupers Schädel hineingucken und dort etwas Unsichtbares ausfindig machen. Doch natürlich spielte sich Antur nur auf. Er war im Grunde überflüssig und ungefährlich. Gaiuper nickte Tegga zu und dieser verstand sofort, was zu tun war. Auch Nada verstand, was Teggas Aufgabe war, und schob sich mit seiner ganzen Fülle und Größe zwischen Tegga und seinen antolianischen Freund. Dieser hatte wiederum nichts Besseres zu tun, als an Nadas sicherer Seite wieder aufzutauchen und Gaiuper weiterhin Löcher in die Augen zu starren. Hatte er noch nicht begriffen, dass er so gut wie tot war?
„ Pfeif deinen Schläger zurück, Gaiuper“, sagte der Antolianer nun, nicht ohne Hast, da Tegga Anstalten machte, über den Tisch zu springen. „Ich weiß genauso gut Bescheid wie Nada, eigentlich sogar besser. Er wird dir kein Wort sagen, also bist du auf mich angewiesen.“
Tegga sah Gaiuper fragend an. Gaiuper zeigte ihm an zu warten.
„ Nada war vorhin sehr gesprächig. Warum sollte er seine Meinung geändert haben?“
„ Weil ich es ihm sage“, antwortete Antur. „Er wird seinen Mund halten, auch wenn es ihn oder Morawena das Leben kostet. Wenn du Fragen stellen willst, dann stell sie mir.“
Als wolle er Anturs Worte unterstreichen,
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