Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
die Lampen, dann wackelte der Boden und plötzlich stürzte alles über ihnen ein. Hoppier hatte das Glück, am Fuß der Kellertreppe zu stehen, als es passierte. Er rannte sie halb hinauf und drückte sich dann in eine steinerne Nische, die das erste Beben heile überstand. Es war nicht leicht, doch Hoppier gelang es, mit nur einem Arm die Trümmer beiseite zu wuchten, die ihm den Weg nach oben verstellten. Als er die frei geräumten Stufen hinaufrannte, kam die nächste Erschütterung und sie warf ihn um. Kriechend erreichte er die Haustür und rettete sich ins Freie. Hier blieb er liegen, bis die Erdstöße abebbten und der Morgen dämmerte.
Die ganze Zeit, während er mit dem Rücken auf der Erde lag, starrte er in den Himmel. Einmal, für einen kurzen Moment, tat sich eine Lücke zwischen den Wolken auf und das erste Licht der Sonne strahlte ihm mitten ins Gesicht. Er kniff die Augen zu. Als er die Augen wieder öffnete, war das Licht verschwunden.
Sehr viel später hörte Hoppier jemanden schreien. Es klang gedämpft und wie verschluckt. Hoppier richtete sich auf und lauschte. Hilferufe. Sie kamen aus dem verschütteten Keller. Daniel oder Kibu, einer von beiden musste es sein. Wer es auch war, er konnte sich nicht alleine aus dem Keller befreien. Vielleicht war er verletzt.
Die Zeiträume zwischen den Rufen wurden länger. Hoppier verursachte das Geschrei Schmerzen. Er hatte schon viele Schreie gehört. Vergebliche Hilferufe von Gefangenen und Gequälten, damals in Bulgokar und später in den Kriegslagern. Er hatte sich nie daran gewöhnen können. Er war nie abgestumpft und auch heute noch bohrten sich die Schreie des Rufenden in ihn wie spitze Waffen. Er wollte das nicht länger erleiden.
Er kämpfte gegen seine Erschöpfung an und raffte sich auf. Als er stand, klopfte er sich den Schmutz von den Kleidern und suchte nach seinem Rucksack. In dem Rucksack befand sich alles, was er besaß, doch der Rucksack war weg. Wahrscheinlich lag er im Keller begraben. Hoppier fand sich kurz mit dem Verlust ab, dann machte er sich auf den Weg an einen Ort, von dem er hoffte, dass er ihn eines Tages erreichen würde. An diesem Ort würde er froh sein. Es war ein Ort, an dem niemand jemals um Hilfe schrie.
MORAWENA hatte geglaubt, das Tor bei Hagl sei ein Teil von ihr. Kein Tor hatte sie häufiger benutzt, keines war ihr so vertraut, keines hatte ihr jemals so nah am Herzen gelegen wie dieses. Dennoch verfehlte sie es. Der Ort, an den sie gelangte, war staubig und trübe und bevölkert von Soldaten, die wie Ameisen kreuz und quer umherliefen. Ob Mann oder Frau, sie alle trugen Hosen, ganz anders als Morawena, die in einem knöchellangen Abendkleid aus Seide unterwegs war. Die Kleider auf dem Leib zu verändern, das gehörte zu den schwierigsten Aufgaben, die sich ein Rabe vornehmen konnte. Morawena griff daher zu einem Trick, den sie schon immer angewandt hatte, wenn es darum ging, schnell in Hosen zu schlüpfen und ihr Gesicht zu verbergen: Sie verwandelte sich in einen Mann.
Es war lange her, dass sie das letzte Mal ein Mann gewesen war. Sie hatte es regelmäßig getan, als Gerard noch gelebt hatte. Natürlich hatte sie ihn diese Gestalt nie sehen lassen. Das hätte er nicht verkraftet. Für ihre Ausflüge in die schlechtere Gesellschaft war es aber immer sehr praktisch gewesen. Sie trug die gleichen Lederhosen wie damals und ein Hemd, wie es in Sommerhalt fast jeder Mann trug. Es war auch nicht schwer, eine halb zerrissene Uniformjacke zu finden, die jemand auf dem Boden zurückgelassen hatte. Hier herrschte sowieso ein heilloses Durcheinander, als habe ein Komet oder Schlimmeres eingeschlagen.
„He!“, rief Morawena einem Soldaten zu, der sich den Staub aus dem Gesicht wischte und seine Mühe damit hatte, aufrecht zu stehen, ohne zu schwanken. „Was ist passiert?“
Er schüttelte den Kopf. Ein Antolianer zweifellos. Er überragte Morawena um einen Kopf. Zur Not, wenn er sich wunderte, würde sich Morawena als Tantaljer ausgeben. Die galten als kleine Leute in den Hochwelten und auch von denen landete der eine oder andere bei der Armee.
„Ein Erdbeben“, sagte der Antolianer. „Aber was es damit auf sich hat, weiß ich nicht.“
„Hier ist ein Tor!“, rief jemand einige Meter hinter Morawena. Noch ein Antolianer.
Dass da ein Tor war, wusste sie längst. Durch das Tor war sie ja gekommen. Viel lieber hätte sie gewusst, wo sie war. Doch die Soldaten in Reichweite interessierten sich nur noch für
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