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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Sie hatten alle viel zu tun. Sie mussten ihre Wohnungen in Ordnung bringen, Arbeit suchen, Läden aufmachen und alles Mögliche reparieren und wieder herrichten: Lampen, Autos, Stromleitungen, Straßenschilder, Fenster, Blumenbeete. Vor zehn Monaten war der Ausnahmezustand verhängt worden. Seitdem hatte sich keiner mehr um irgendwas gekümmert. Dann waren sie nach und nach alle aus der Stadt geflohen, nur Gunther-Sven musste bleiben. Sie hatten ihn eingezogen und für die Polizeikontrollen eingeteilt, die versuchten, in der verlassenen Stadt für Ordnung zu sorgen. Das war manchmal brenzlig gewesen, erzählte er jetzt. Ein Kollege von ihm wurde von einer Bande zusammengeschlagen und lag zwei Wochen lang in der Krankenstation.
    „Das muss schrecklich gewesen sein!“, rief Marie-Rosa. „Aber am meisten hätte ich mich vor der Bombe gefürchtet.“
    „Ich hab immer gedacht, dass es gut ausgeht“, sagte Gunther-Sven in der ruhigen Art, die Marie-Rosa so an ihm schätzte. „Aber mit Suaz hab ich überhaupt nicht gerechnet.“
    „Nein, we r hätte das schon“, sagte Marie-Rosa traurig.
    Ein halbe Stunde später erreichten sie den Eingang zu der Einzimmerwohnung, die Marie-Rosa mit Birgitta bewohnte. Dort hatte sich nicht viel verändert. Die Vermieterin schaute gleich aus dem Fenster nebenan, gut gelaunt mit roten Pausbacken.
    „Schön, dass Sie wieder da sind! Die Birgitta hat sich auch schon gemeldet! Sie kommt erst nach dem Neujahrsfest.“
    „Ach, erst? Wie geht es ihr?“
    „Gut. Sie will jetzt eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Sie hat dem Arzt geholfen, das hat ihr gut gefallen.“
    „Wirklich? Ist ja toll.“
    Während sie das sagte, öffnete Marie-Rosa den Briefkasten. Sie erwartete nicht, dass viel Post darin wäre, schließlich wussten alle Leute, die sie kannte, dass sie auf dem Land bei ihren Eltern gewesen war.
    „Oh“, sagte sie jetzt. „Ein Brief von Elsas Mutter!“
    Gunther-Sven schaute gleich über Marie-Rosas Schulter.
    „Dann hat sie dir ja doch geantwortet.“
    „Ja, aber guck mal, der Brief muss schon lange hier drin gelegen haben.“
    Marie-Rosa schloss auf und sie gingen in die leere Wohnung, die nach einem halben Jahr ohne Bewohner nach Keller roch, obwohl sie sich im zweiten Stock befand. Gunther-Sven stellte den Koffer ab und sah Marie-Rosa gespannt an. Er wollte wissen, was in dem Brief stand. War ja verständlich. Nicht nur, dass ihm Elsa mal viel bedeutet hatte. Es war auch so, dass er Elsa nach ihrem Streit, wie er es nannte, nie wiedergesehen hatte. Sie hatte sich nicht mehr gemeldet seitdem und reagierte weder auf Briefe noch auf Telefonanrufe. Marie-Rosa hatte sich Sorgen gemacht und eines Tages an Elsas Mutter in Sellerichkranz geschrieben. Es kam aber monatelang keine Antwort. Dann brach der Krieg aus und Marie-Rosa verließ die Stadt.
    Marie-Rosa setzte sich auf den Stuhl am Küchentisch und öffnete den Brief mit einem Messer. Sie überflog die ersten Zeilen.
    „Sie entschuldigt sich, dass sie so spät antwortet“, berichtete Marie-Rosa, während sie las. „Ihr Mann war krank und sie musste sich um den Laden kümmern.“
    „Ach, der Laden“, sagte Gunther-Sven, „von dem hat Elsa oft erzählt.“
    Marie-Rosa las weiter.
    „Oh nein!“, rief sie.
    „Was?“, fragte Gunther-Sven.
    „Elsa ist nach Suaz zurückgegangen!“
    „Wann?“
    „Im Herbst. Vor zwei Jahren.“
    Marie-Rosa und Gunther-Sven schauten sich an. Wenn Elsa vor drei Wochen in Suaz gewesen war, dann war sie jetzt tot.
     
    AMANDIS war sofort aus dem Haus gerannt, als das Beben begann. Es war stockdunkel gewesen um die Zeit. In der Eile hatte Amandis sogar die kleine Pistole vergessen, die auf ihrem Nachtschrank für unangenehme Zwischenfälle bereitlag. Aber wozu braucht man eine Pistole, wenn die Welt untergeht?
    Sie warf sich ins Gras, flach auf den Bauch, weil es ihr am sichersten erschien. Denn die Erde wackelte und bebte so heftig, dass man sich kaum auf den Beinen halten konnte. So wartete sie ab, die Nase in Brisas Gras gesteckt, das vom letzten Regen noch feucht war. Es kam Amandis so vor, als ob ihr die Erde, die da tief unten in Bewegung war, etwas sagen wollte. Sie verstand nur nicht, was. Es klang jedenfalls nicht wie: ‚Ich bringe dich um, du nichtswürdiges Geschöpf!’ Das fand sie beruhigend.
    Amandis wusste mittlerweile, dass sie mutig war. Sie war in Brisa geblieben, gegen Romers und Sistras Willen. Ohne Schutz, ohne Möwen, die ihr Haus und die Stadt bewachten.

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