Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
Die Möwen waren abgezogen, sie wurden am letzten Tor gebraucht. Die Bewohner Brisas waren größtenteils auch verschwunden. Samuel, ein alter Kapitän, der sich in Brisa zur Ruhe gesetzt hatte und dort ein kleines Museum eingerichtet hatte, war noch da. Amandis besuchte ihn jeden Tag um elf Uhr und trank mit ihm eine Tasse Nokkakau. Dabei saßen sie im Museum zwischen Totenmasken und bunt bemalten Speeren. Manchmal kamen auch zwei Schwestern vorbei, ebenso alt wie der Kapitän. Sie hatten einmal Brüder geheiratet und beide wieder verloren. Sie waren seelenruhig, denn sie hatten keine Angst vor dem Tod. Der Kapitän sah seinem Ende auch gelassen entgegen. Amandis ging es anders, sie fürchtete sich vorm Sterben. Aber sie hielt es für unvermeidbar, dass es geschah, und wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie es zu Hause tun.
Hier im Garten, wo sie jetzt auf dem Bauch im Gras lag, da wohnte der Geist von Lian. Lian, das hatte Amandis immer ganz deutlich gespürt, war die einzige, die sie erlösen konnte. Erlösen von Zweifeln und Kummer und dem Gefühl, überflüssig zu sein. Wenn Lian länger gelebt hätte, wenn sie Amandis eine Mutter hätte sein können, dann wäre das Leben einfacher gewesen. Aber in diesen letzten zehn Tagen, die Amandis ganz alleine in Brisa zugebracht hatte, auf ihren eigenen Wunsch, ihrem persönlichen Dickkopf geschuldet, da war es ihr gut gegangen. Trotz aller Ängste hatte sie sich stark gefühlt. Jeden Fuß, den sie vor den anderen gesetzt hatte, hatte sie an die richtige Stelle gesetzt. Aus freiem Willen auf die ihr eigene Weise. Sie verstand zwar nicht, warum das so war und warum es ausgerechnet hier und jetzt so war, in dieser gottverlassenen Stadt am Ende der Zeit, aber trotzdem war es so.
Als das Beben nachließ, war es immer noch dunkel. Nur im Osten, wo die Sonne bald aufgehen würde, war schon ein heller Schimmer am Himmel zu sehen. Er kam Amandis merkwürdig vor. Rötlich, bräunlich, wolkig. Die Erde ruckelte noch ab und zu, immer ganz plötzlich, wie bei einem unerwarteten Schluckauf, doch die Abstände dazwischen wurden länger und schließlich war es ganz still.
Ganz zaghaft begann der eine oder andere Vogel zu zwitschern. Amandis blieb am Boden liegen, noch eine lange Zeit. Als die Sonne aufging, war der Himmel leicht verschleiert und hatte einen bronzefarbenen Stich. Die Erde gab keine Geräusche mehr von sich. Erst jetzt merkte Amandis, dass sie stocksteif war vor Schreck. Vorsichtig bewegte sie ihre kalten, starren Arme und Beine, dann rappelte sie sie sich auf und strich ihr nasses Kleid glatt. Sie hatte es sich angewöhnt, jede Nacht im Kleid zu schlafen, damit sie jederzeit wegrennen konnte. Das hatte sich heute bewährt.
Sie hatte keine Lust, ins Haus zurückzukehren, stattdessen schritt sie durch das hohe Gras auf das Tor zur Straße zu. Sie musste nach Samuel sehen. Hoffentlich war sein Museum bei dem Erdbeben nicht zu Bruch gegangen. Amandis musste lachen, als sie an sich hinabschaute. Ihr Kleid war bis zu den Knien durchnässt und voller Grasflecken. So wäre sie früher niemals in die Mittelstadt gegangen, aber jetzt sah es ja keiner mehr. Jede Nacht flocht sich Amandis die Haare zu einem praktischen Zopf. Bis zum Morgen lösten sich etliche feine Locken aus dem Zopf und sie sah dann wild zerzaust aus, wenn sie zum ersten Mal in den Spiegel schaute: ein rotgoldener Wuschelkopf mit gerötetem Gesicht. So musste sie jetzt auch aussehen, doch Samuel würde es nicht stören. Wenn man seinen Geschichten glaubte, dann hatte er schon unerhörtere Dinge gesehen als unfrisierte Damen.
Am Aussichtspunkt stieg Amandis kurz auf die Mauer und blickte sich um. Das tat sie jeden Tag. Sie erkannte, dass die Ebene leer war, und war beruhigt. Seit die Heere von dort abgezogen waren, fürchtete sie, dass sie zurückkehren könnten. Sie sprang von der Mauer und ging den menschenleeren Weg hinab, wobei sie sich fragte, was nun werden sollte. Statt einer Antwort oder wenigstens einem Gedanken, der ihre Ahnungslosigkeit beschrieb, war da nur Leere in ihrem Kopf. Eine Leere, so frisch und klar wie die Luft an einem kühlen Herbstmorgen.
Am Rathaus-See, in dem kein Wasser mehr war, hätte sie links abbiegen müssen. Doch sie blieb stehen, da sie jemanden am rechten Rand des Sees entdeckte. Ein Mann saß dort. Er war kein Soldat. Alt war er auch nicht. Eher jung. Obwohl sie ihre Pistole nicht dabei hatte, schlug Amandis den Weg in seine Richtung ein. Je näher sie kam, desto
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