Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
und Wege glatt und unpassierbar. Tagsüber breitete er sich im Wald aus, auf den Wiesen, ein gefräßiges weißes Tier. Hanna ging am Wald entlang und merkte, dass der Nebel sie schluckte. Ganz leicht machte sie sich da, ganz leicht – eine Wolke, eine Feder, weiß, flaumhaarig, zartkielig – und auf und davon. Auf und davon.
Aber kehrte um. Ließ sich ausspucken vom Nebel, dessen weißes Licht sie geblendet zurückließ.
Ließ sich ausspucken und schaute hellen Blicks in helle Augen und erkannte sich … plötzlich … wieder.
»Ja«, sagte Dorothee, »das war erstaunlich. Wir freuten uns sehr. Dann ging sie weg. Zurück nach München. Studierte weiter. Anfangs haben wir versucht, den Kontakt zu halten. Ich habe sie regelmäßig angerufen, aber sie ging entweder nicht ans Telefon, oder sie war so kurz angebunden, dass es peinlich war. Irgendwann habe ich aufgehört, anzurufen, sie zu fragen, wie es ihr ging, sie einzuladen. Ich glaube, es war ihr recht.«
Sie nahm das Glas, trank es leer. »Wir haben sie seither nicht wiedergesehen, nur in der Zeitung manchmal. Und einmal sind wir in einer ihrer Ausstellungen gewesen. In einer der ersten. Wartehallen hieß die, glaube ich. Wir haben sie darin gefunden, unsere Hanna, in diesen Bildern, wie sie gewesen ist, als sie zurückgekehrt ist zu uns, ihre Rastlosigkeit, ihre Einsamkeit, ihre Traurigkeit. So hat sie diese Zeit wohl aufgearbeitet. Großartige Bilder.«
Schweigen. Es war alles gesagt. Später Vormittag. In den Mittagsnachrichten würden wieder die Fotos kommen. Das von Hanna. Das von Tonio Wie-immer-er-dann-hieß.
»Wir haben immer noch keine Spur von ihr«, sagte Herz. »Und Sie wissen selbst, dass sie das allerbeste Motiv gehabt hätte.«
»Sie ist es nicht gewesen«, sagte Dorothee. »Ich würde das spüren.«
»Ja?«, sagte Herz und konnte den feinen ironischen Klang in seinem Tonfall nicht verhindern, »würden Sie das?«
Sie schaute ihn an, schwieg.
»Und Lilli«, fragte Franza, »was werden Sie Lilli sagen?«
»Lilli?«
Sie schauten sich an, erschraken, sie hatten noch nicht an Lilli gedacht.
»Sie weiß es im Übrigen«, sagte Franza, »ich glaube, sie weiß, dass Gertrud nicht ihre leibliche Mutter ist. Sie hat Andeutungen gemacht, aber ich konnte nichts damit anfangen, erst jetzt …«
Sie holte ihr Handy heraus, keine SMS .
»Sie werden sich verantworten müssen, Sie beide«, fuhr Herz fort und erhob sich. »Sie wissen das?«
Sie nickten, blieben sitzen, Erschöpfung war ihnen anzusehen, Müdigkeit. Die Ermittler verabschiedeten sich.
Sie fuhren langsam zurück, keine Hiobsbotschaften waren auf den Handys gewesen, nichts Neues also.
»Lass uns bei mir daheim vorbeischauen«, sagte Herz, »du hast sie doch schon ewig nicht gesehen, meine Zwerge.«
»Ja«, sagte Franza, »das machen wir. Schließ sie kurz in die Arme.«
Sofort kamen sie angetrabt, die Zwerge, Justus und Johanna, er eine halbe Stunde älter als seine Schwester, sie schneller beim Papa auf dem Arm als das Brüderchen. Dann auch er, dann schmusten sie zu dritt hin und her. Angelika und Franza standen im Türrahmen, lachten und Angelika fragte leise: »Ist was passiert? Weil ihr extra vorbeikommt?«
Franza nickte. »Er wird’s dir sicher abends erzählen.«
Und schon waren sie wieder weg, unterwegs ins Präsidium, Besprechung mit Arthur und Hansen, später Vormittag, was würde der Tag noch bringen?
64 Sie blieben noch lange sitzen. Schweigend. Seine Hand in ihrer. Kalt. Schweißig. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie irgendwann. »Der Magen wieder?«
»Ja«, sagte er, »es geht mir nicht gut. Der Magen wieder. Ich spür ihn. Kann nichts essen.«
»Ich sehe es«, sagte sie, »du hast abgenommen.«
Er nickte. Wieder Schweigen.
Sie dachte an die vielen Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten, all die Jahre, in denen es … irgendwie gut gewesen war, in denen sie nicht daran gedacht hatte, nicht an Hanna und ihre Tochter, nicht daran, dass sie Hannas Tochter zu Gertruds Tochter gemacht hatten. Aber irgendwann wurde jede Wahrheit wieder zu der, die sie wirklich war.
»Und du?«, fragte er.
Dorothee zuckte die Schultern. »Muss wohl. Die Kinder sind doch da.«
»Weinst du manchmal?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie. »Manchmal. Nachts. Wenn ich allein bin.«
Er schaute sie an, ihr Gesicht war undurchdringlich.
»Es tut mir alles schrecklich leid«, flüsterte er.
Sie nickte. »Das ändert nichts«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »ich weiß.«
Er
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