Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
vollgestopft mit Zeug, wesentlichem und unwesentlichem. Die Fülle raubte ihm den Atem
Er setzte sich auf das Sofa, schloss die Augen, atmete tief durch und staunte. Erneut zog er das Schreiben hervor, das der Notar ihm zusätzlich übergeben hatte, diesen Brief eines Großvaters an seinen Enkel, der diesen nie gesehen, nie etwas von ihm gewusst hatte. Er las die Zeilen zum fünften Mal und verstand sie genauso wenig wie die vier Male zuvor. Irgendwann begann er zu suchen. Und wurde fündig. Fand Fotos. Briefe. Kopien der Polizeiberichte, Übersetzungen aus dem Griechischen ins Deutsche und die akkuraten Mitschriften des Großvaters, der jene Tage damals protokolliert hatte mit einer Akribie, die an Besessenheit grenzte, von der Nachricht des Todes bis zur Überführung des Leichnams und zum Begräbnis.
Irgendwann ging Tonio zurück ins Hotel, checkte aus und quartierte sich in der Wohnung ein.
Die Tage vergingen, eine Woche, zwei, der Sommer neigte sich, aber war noch immer voll klarer Intensität.
Tonio drehte Runden durchs Viertel, die Menschen begannen ihn zu grüßen, er grüßte zurück. Er begann auszuräumen, langsam, aber mit großer Sicherheit, begann mit der Kleidung, den Schuhen, brachte weg, weg, weg. Wäsche, eingestaubte Vorhänge, Zeitungen, Bücher, abgelaufene Lebensmittel, uraltes Toilettenzeug. Er zertrümmerte Möbelstücke, Elektrogeräte, entsorgte sie im Sperrmüll, kaufte Putzmittel, schrubbte Böden, Fenster, Wände, Fliesen.
Kaum etwas behielt er, bloß eine Matratze auf dem Boden, die Küchenzeile, den Tisch, einen Stuhl, den Plattenspieler und ein paar Platten, je leerer die Wohnung wurde, desto leichter atmete es sich.
Er fand wenig Zeit etwas zu essen, holte sich Pizza vom Stand um die Ecke, aß Brot, trank Wasser. Die Welt wurde ganz klein, eine winzige Insel, die mühelos in diese Wohnung passte. An den Spuren eines Großvaters gesund werden, dachte er spöttisch.
Als alles geleert war und er die Stille in seinem Kopf endlich wiedergefunden hatte, zog er sich auf die Matratze zurück und starrte in die Augen der beiden Männer, von denen er sein Leben lang nichts gewusst hatte.
Noch immer hatte er ihnen nicht ihre Namen gegeben, sie waren Namenlose, hingen an der Wand, festgepinnt mit groben Nägeln, gut sichtbar von seinem Lager auf der Matratze, sie schauten ihn an aus seinen eigenen dunklen Augen und allmählich begann er sie zu spüren.
Der eine, der Jüngere, der Vater, schon viel länger tot als der andere, der Großvater, sein halbes Leben lang, nein, er rechnete nach, länger als sein halbes Leben.
Er begann mit dem Vater zu reden, erzählte ihm vom Krankenhaus, von Rasmus, von Kristin, von seiner Mutter, die irgendwo weit im Norden lebte und die er so gut wie nie sah, vielleicht einmal im Jahr, wenn es hochkam.
Wieder vergingen Tage, und irgendwann fühlte er, dass der Zeitpunkt gekommen war, um die Frauen dazuzuhängen, sie links und rechts neben den Vater zu pinnen. Auch ihnen gab er nicht ihre Namen. Später, dachte er, vielleicht später einmal, während die Geigen auf dem Plattenspieler des Großvaters jaulten und heulten wie Gespenster, kratzig und viel zu langsam, und die Nachbarin von oben mit dem Besenstiel klopfte, weil die Musik zu laut und es obendrein drei Uhr nachts war.
Dann die Briefe. Liebesbriefe. Schwülstig, fand er am Anfang, schwülstig und triefend von Plattitüden, aber je öfter er sie las, desto schöner fand er sie und versank immer wieder in den Worten. Er fragte sich nicht, wie die Briefe hier zusammengekommen waren, ihre und seine, es war, wie es war, wie es sein musste.
… geliebte hanna … geliebter tonio …
Immer war das der Beginn ihrer Gespräche, ihrer Dialoge, die ineinandergriffen wie sich verschränkende Finger.
… geliebter tonio … schrieb sie. Dass die Tage leer seien. Dass sie ihn erwarte, den Geliebten, mit jeder Faser ihres Herzens, wo er bleibe, wo er sei, dass sie sich nach ihm sehne, dass er ihr fehle, sobald er den Raum verlasse, dass sein Körper ihr Krug sei, ihre Kanne, dass ihre Seele sich in ihm finde und ihr Herz, dass sie ein flaumig gebild sei ohne ihn, das zerfalle, sich auflöse …
Er schrieb zurück. … geliebte hanna …
Dass die Tage leer seien. Dass er sie erwarte, die Geliebte. Mit jeder Faser seines Herzens. Wo sie bleibe. Wo sie sei. Dass er sich sehne. Dass sie ihm fehle. Dass sie ihm immer gefehlt habe. Zeit seines Lebens. Immer. Und jetzt. Sobald sie den Raum verlasse. Dass
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